Nichts als Erlösung
ist nicht allein, sie sitzt neben wochenendlaunigen Fahrgästen in einem herunterklimatisierten ICE-Abteil.
Du kommst sofort zurück nach Köln, hat Millstätt befohlen, nachdem sie ihn auf den Stand gebracht haben. Zwei Kollegen machen sich in dieser Minute auf den Weg, um Manni zu verstärken. Ich will, dass du erst mal aus der Schusslinie bist, Judith. Nimm dir einen Tag frei und schlaf dich aus, und ja, das ist eine Dienstanweisung, über die ich nicht diskutiere.
Der Fall entgleitet ihr. Alles entgleitet ihr, und trotzdem hat sie das Gefühl, dass sich etwas um sie herum verdichtet, dass sie vor dem Durchbruch stehen, obwohl sie noch immer etwas Wesentliches nicht begreifen. Ausschlafen. Freinehmen. Es klingt verlockend, aber es wird nicht funktionieren. Sie könnte auf eine Südseeinsel fliegen, und das Gefühl, dass der Täter sie beobachtet, bliebe trotzdem. Dass er ihr schon zu nah ist. Dass sie seine Marionette ist. Vielleicht ist das Hysterie. Übermüdung. Die alte Angst, von der sie schon glaubte, sie sei überwunden.
Es ist zu kalt in diesem Waggon, wenn sie hier sitzen bleibt, wird sie sich erkälten. Sie schultert ihren Rucksack und macht sich auf die Suche nach dem Speisewagen. Eine heiße Suppe. Eine Tasse Kaffee. Mitten im Hochsommer, der draußen vor den Zugfenstern in einer fliegenden, goldgrünen Landschaft verwischt. Sie fragt sich, was Manni macht. Ob er noch bei Böhm ist oder bei Eric Sievert oder schon wieder durch den Wald läuft. Ob er die Stelle von den Fotos heute noch finden wird, und wenn ja, was sich dort verbirgt. Gestern war sie sicher, dass Kurt Böhm der Täter ist, jetzt weiß sie nicht mehr, was sie denken soll. Seine Ehefrau hat sein Alibi bestätigt. Eine Tankquittung belegt, dass er an dem Abend, an dem Jonas Vollenweider erschossen wurde, um 21:14 Uhr bei Limburg getankt hat. Er oder jemand anderes, das muss man noch klären. Und natürlich kann Böhm nach dem Tanken nicht, wie er behauptet, nach Darmstadt, sondern nach Köln gefahren sein. Rudi, denkt sie. Rudi, der Soldat ohne Nachnamen. Rudi und Susanne, die mir ähnlich sieht. Rudi, Rudolf, Rüdiger. Die M417. Ein Junge auf einer Pritsche im Keller, der um seine Mutter weint und deshalb verhöhnt wird. Ist es wirklich denkbar, dass Kurt Böhm das nur erfindet, oder spricht er am Ende von sich selbst?
Der Speisewagen ist leer. Sie schaltet den iPod aus, setzt sich an einen Zweiertisch und bestellt Chili con Carne und schwarzen Kaffee. Irgendwo hinter ihrer Stirn lauert noch der Schmerz, bereit, jederzeit wieder aufzuflackern. Wenn sie versucht, in der fliegenden Landschaft einen Fixpunkt zu entdecken, wird ihr schlecht, und der metallene Fuß des Speisekartenhalters reflektiert ihr Gesicht, blass und verzerrt, das Gesicht von Susanne, die vielleicht nur die Erfindung eines Wahnsinnigen ist. Judith springt auf und läuft ins WC, wäscht sich Hände und Gesicht und betrachtet sich im Spiegel. Die graublauen Augen ihres Vaters, die Sommersprossen, das Kinn ihrer Mutter, die verschwitzten Locken. Sie reißt das Haargummi weg, wirft es in den Müll. Ich. Sie. Der Fall droht in Tausende Splitter zu zerspringen, nicht mal die sonst üblichen Routinen des KK 11 geben dem Ganzen noch Struktur. Berichte, Soko-Meetings und Pressekonferenzen, all das geschieht in Köln ohne sie. Es kommt ihr so vor, als sei sie schon seit Ewigkeiten unterwegs in fremden Häusern, Landschaften, Leben.
Sie geht wieder an ihren Tisch, isst das Chili und trinkt den Kaffee.
»Die politische Dimension, hast du die bedacht, Judith?«, fragt Ralf Meuser, als er sie endlich zurückruft, und redet gleich weiter, atemlos. »Der Zorn der 68er entzündete sich auch an dem nationalsozialistisch geprägten autoritären Erziehungsstil und dem damit verbundenen Ideal von Zucht und Ordnung, beides war damals immer noch Standard. Sogar die RAF-Terroristen setzten zunächst beim Thema Erziehung an. Andreas Baader und Gudrun Ensslin gründeten Heimbefreiungskomitees und riefen die Zöglinge zur Revolte auf. Peter-Jürgen Boock ist so ein ehemaliges Heimkind. Und Ulrike Meinhof berichtete zunächst als Journalistin genau über diese Zustände und schrieb dann das Drehbuch zu dem Fernsehspiel Bambule, das die brutalen Zustände in den Mädchenheimen öffentlich machen sollte. Aber der Film wurde dann doch nicht gezeigt, weil Meinhof im Mai 1970, kurz vor dem geplanten Sendetermin, in den Untergrund ging, denn sie glaubte nicht mehr …«
Ein Tunnel verschluckt
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