Nichts für Anfänger - Roman
Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Tante Grace, total verschmiert und tränennass, hebt den Kopf aus der Massenumarmung und bellt zu mir rüber. Sie sagt, dass Saidhbh erst mal bleiben kann, solange sie nicht noch verrückter wird. Und dass es an Deano und mir und diesen ganzen Eso-Peso-Idioten von Gemeinschaft ist, sie wieder gesund zu machen. Und wenn sie sich wieder aufgerappelt hat und auf festen Füßen steht, dann will sie uns beide hier nicht mehr sehen. Keine Fragen mehr. Für immer.
8
Der Prüfstein
M itte Oktober habe ich die Hälfte der Flüge abbezahlt. Ich und Saidhbh werden an Weihnachten als die ruhmreichen Helden zu Hause ankommen, die wir sind. Ich mit einem richtig echten Job im besten Restaurant Londons. Und sie wieder völlig richtig im Kopf und mit einer riesigen vor Baumbildern überquellenden Mappe unterm Arm. Wann immer es geht, erzähle ich Saidhbh was von Weihnachten, weil das ihre liebste Sache auf der ganzen Welt ist, wie so ein magischer, leuchtender Ort weit weg am Horizont, der aber schon fast in Sichtweite ist und ihr Leben wieder lebenswert macht. Zu Hause hörte man solche Sachen andauernd von den Kaffee- Mams, über irgendeine uralte Schachtel, die so sagt: Oh, wenn ich nur bis zur heiligen Erstkommunion der kleinen Jacintha leben würde, wäre ich Gott dankbar! Und da ist Jacintha noch ein Baby, und alle denken sich insgeheim, dass die alte Schachtel etwas gierig und zu selbstsicher ist, wenn sie glaubt, dass sie noch sieben Jahre am Leben bleibt. Aber tatsächlich schafft sie es bis zum Kommunionstag und ist der unangefochtene Star der Stunde auf allen Familienfotos, vor allem auf dem großen im Fernsehzimmer, wo sich alle um sie versammeln und sie wie eine riesige, kunterbunte Fa milienblume aussehen, von der sie der graue Kern in der Mitte ist. Sie sitzt auf einer Plastikfolie im Ohrensessel, weil sie sich manchmal in die Hose pinkelt, aber trotzdem lächelt sie wie ein Honigkuchenpferd in sich rein, weil sie es endlich geschafft hat, sie wurde erhört, ist so weit gekommen, bis zu diesem Tag. Und dann, gleich am nächsten Morgen, ist sie tot.
Also ein bisschen so ist Weihnachten jedenfalls für Saidhbh. Alles von vorne bis hinten. Wirklich alles. Mit ihrem Dad nach Oakfield fahren, um bei dem Schlitzohr am Busbahnhof den Baum zu kaufen, dann der Spannungsaufbau mittels Bing-Crosby-Platten und Boney M mit »Boychild« bis zum großen Tag an sich. Sie steht auf alles. Sie liebt die Messe um zehn Uhr morgens, die ganz schnell vergeht, weil alle nur ihren Geschenken zu Hause entgegenfiebern, und sie liebt es, dass die Pfarrer genau wissen, wie die Leute heute drauf sind, und deshalb keine lange Predigt halten, sondern den Mams sagen, sie sollen zurück in ihre Küchen gehen, damit der Truthahn nicht anbrennt, wobei immer alle laut lachen, vor allem die Mams. Und dann die Besuche, eine Million verrückte Autofahrten quer durch Dublin zu den Onkels und Tanten, die dich bis zu deinem achtzehnten Geburtstag immer bei den Erdnussschälchen und 7-Up-Dosen aufspüren, um dich zu drücken und dich zum Dank noch ordentlich abschlabbern. Und dann die Riesenmonstermahlzeit mit allen am Tisch, und die Mams und Tanten kriegen alle anderen dazu, Spiele zu spielen, wie eine richtige Familie, wo man zum Beispiel einen Zettel mit einem Namen drauf an die Stirn geklebt bekommt, und man muss raten, wer man ist, und ich bin dauernd Mutter Teresa, was ein bisschen unfair ist, weil das eine Frau ist und man sie deswegen nicht so wirklich auf dem Schirm hat, es sei denn, sie ist gerade in den Nachrichten, weil sie megaheilig und faltig ist und von verhungernden Kindern übersät.
Und Saidhbh findet den Stephanstag noch besser als Weihnachten, weil da bei der Familie Donohue das weltberühmte Stephanstags-Hoolie stattfindet. Und bei dieser Sause steht die Tür den ganzen Tag lang jedem offen, jedem in Kilcuman und Umgebung und jedem, den sie je in ihrem Leben getroffen haben, alle quetschen sich für ganztägiges Saufen, Kuchen und ein paar heimliche Widerstandslieder in ihr Haus. Und sie gehen erst wieder um vier Uhr morgens, wenn der letzte Tropfen ausgetrunken ist und ihre Stimmen heiser sind und offiziell feststeht, dass das diesjährige donohuesche Stephanstags-Hoolie noch besser war als letztes Jahr.
Also beschreibe ich Saidhbh, wie wir zusammen mit sämtlichen anderen lange verlorenen Kindern aus allen Ecken der Welt durch den Dubliner Flughafen schlendern und uns die Lichter angucken, die uns
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