Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Harmonien. Aber Hans war in seinen Sitz gesackt, die Nerven angeschlossen an die Pedal-Steel-Gitarre, die ihre quecksilbrigen Ströme durch seinen Körper jagte. Kjell konnte nicht anders, als bei der Zeile »If my time on earth were through« Hans anzusehen, der seinen Blick auffing, ohne zu verstehen.
Damals, als sie gerade in Manhattan angekommen waren, hatten sie viel über Musik geredet, die erste Station eine Bruchbude in der 98. Straße West und dann ein Loft an der Ecke West Broadway und Broome Street, an dem sie, obwohl es inzwischen mehr als das Doppelte kostete, festhielten bis zu diesem Tag. Es war die Zeit der Ledermänner gewesen, und die Ledermänner liebten Klaus Nomi, entflammt, als er lebte, und abgöttisch, als er tot war. Kjell schrieb sich an der NYU ein, Hans wurde Mikrophonspezialist in einem unbedeutenden, aber ausgebuchten Studio in Brooklyn. Kjell hatte Hans und Hans hatte die Piers. Manchmal kam Kjell mit, als Freund oder Voyeur, das unglaubliche entfesselte Schauspiel von Männern im Halbdunkel mit Masken und Lederhosen mit seltsamen Aussparungen, nichts daran Zufall, sogar SS-Runen auf der Haut, ein Rausch von Symbolen und Signalen, die Schmerzgrenze nach oben offen; fremd war nicht fremd, sondern neu; wo einer schlappmachte, richtete sich der Nächste auf, ein Phalluskarussell. In den Nächten, in denen Hans allein nach Haus kam, verlor er kein Wort, die Augen feucht vor Schmerz oder vor Glück; mit Daiquiri in die Badewanne. Spät am Abend spielte er dann Stand by Your Man aus der Boombox, dreimal, viermal, laut.
»Was hast du Schwuchtel bloß mit den Jodlern der Rednecks?«
»Du verstehst wirklich nichts, Kjell, gar nichts.«
»Dann müsstest du auch Abba toll finden.«
»Tu ich auch. Lachsrogen aus der Tube, klasse!«
Hans hatte also Kontakte gemacht und war dann, mit zweiundzwanzig Jahren, nach Nashville gegangen, wo er als Koproduzent eines Hoffnungsträgers – der richtige Mann unter dem falschen Hut oder der falsche Mann unter dem richtigen Hut – sein kleines Vermögen einbüßte, von alten Männern mit weißen Mähnen Dinge im Studio lernte, vondenen man in Brooklyn noch nie gehört hatte. Dennoch entging ihm nicht, dass er gemieden wurde, bespöttelt, Knäred light. Da alle Musiker mit dem Auto nach Nashville kamen, war ihm klar, dass er nur aufspringen musste, um Amerikaner zu werden, verlorenzugehen in Boulder, Omaha, Santa Fe, aber dann war es ein Produzent aus Texas, der ihn aufgabelte: »Nashville ist natürlich super profimäßig, aber der Spirit ist trotzdem nicht mehr ganz der alte. Die wirklich beste Stadt für Musik ist jetzt Austin, und übrigens, da schauen sie auch nicht herab auf Jungs wie uns. Wir schreiben da unsere eigenen Lieder.« Sogleich waren die Koffer gepackt. Es sollte sich bald zeigen, dass Hans ein enormes Gedächtnis besaß für Songs und Musiker, und die Verknüpfung von artist und repertoire war hier, wo täglich eingespielt wurde, ein Beruf. Hans Solvin, A & R, 414 S. First Street, Suite 615, stand auf seiner Karte. Für seine Begriffe war er weit gekommen. Kjell vermisste ihn sehr in New York, verbrachte seine Tage in der Bibliothek der Universität und ging nie mehr auf die Piers. Stattdessen zu Beerdigungen, eine im Monat mindestens, eine jede wie die Verstoßung des Verstorbenen: weil es in Manhattan keine Friedhofsplätze mehr gab.
Es war grau und windig auf der Tagesfahrt durch den Osten Tennessees, der nach Virginia weist wie eine ausgestreckte Hand. In der Nacht, sie fuhren über die Appalachen, war es abwechselnd klar und neblig. Das Auto fraß eine Menge Benzin. Hans sah die großen, leuchtenden Signale der Tankstellen und Motels wegkippen in einen schwarzen Himmel, eine nicht enden wollende Parade des Abschieds, die hinter den Lidern nachflackerte, er eingerollt in einen brüchigen Quilt, Lavendel und Rosen.
Zwischen Gewerbehallen, Schildern, Masten erschien im ersten Morgenlicht Manhattan. In diese Stadt waren sie gezogen, als noch alles möglich schien. Jetzt kehrten sie, unddas war klar, ein letztes Mal gemeinsam dorthin zurück. Kjell hielt an, der Motor grollend in der Parkposition; Hans kroch nun wieder nach vorn. Sie staunten eine Weile, während das Glitzern der Skyline zunahm. Und Hans sagte:
»Ich wäre im Traum nicht drauf gekommen, dass ich das erleben darf.«
Im Broome-Street-Loft hatte sich viel getan, seit Hans damals weitergezogen war nach Nashville. Mit Holzeinbauten waren Kammern geschaffen worden. Für die
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