Nichts Weißes: Roman (German Edition)
etwas, das in die Welt geraten wäre als Zero oder Modernica . Eine Radikalität, die man nur herausbilden kann in der Abgeschiedenheit: So wie mancher Philosoph nicht mit dem König spricht, sondern nur mit anderen Philosophen, und mit diesen auch nur über deren Bücher, aber am Ende ist der König enthauptet und die Geschichte wird zurückgestellt auf null.
Es war so etwas wie ein Riesenrad, das sie aufnahm, aus der Menge löste, und sie langsam weiterdrehte; nun war sie oben und sah den Sinn der Sache ein. Sie war angekommen am Gipfel der Welt, die Übersicht als Selbstzweck. Dass du das siehst, Marleen: dass nichts unbeschrieben ist. Dass es nichts Weißes gibt. Ihr Sitz schwankte. Der Barmann holte sie wieder auf den Boden. Es war Schichtwechsel, und er wollte kassieren. Erst jetzt, beim dritten Mal, erreichte sie die Ansage, dass der Air-France-Flug nach New York um mindestens eine Stunde verschoben sei. Sie zahlte, nahm ihr Gepäck und zog um ins Selbstbedienungsrestaurant. Dort, am Tresen, sprach sie jemand an. Der war das Leben. Er hatte einen Freund dabei, den Tod.
Titus Passeraub, drei Tage zuvor angekommen, hatte sich im Waldorf Astoria einquartiert und jagte zweimal am Tag mit dem Taxi zum Headquarter von IOM, einem bronzen schimmernden Hochhausstab im Quartier der Vereinten Nationen. Im Hotel hatte er das neunte Stockwerk für sich ausgeguckt und für Marleen auch, während sein Büro bei IOM im vierzehnten lag, »so dass man in den Stollen aufsteigt«,wie er Marleen das erklärte, die annahm, er meine damit die Arbeit. Es war nicht sein eigenes Büro, sondern ein gewaltiger Konferenzraum, mit Tischen, Stühlen, Leuchtkästen, Tageslicht, Computerbildschirmen und Rechenstationen, vor sich hinblinkend in Wandschränken. Man konnte den Raum verdunkeln und den Computerbildschirm auf eine weiße Leinwand projizieren. Die Belegschaft war streng konfektioniert, fast wie eine Armee. Männer wie Frauen bei IOM neigten zu Dunkelblau, zu Mittellaut, zu kurzen Frisuren, zu College- plus Eheringen, Alumni-Ansteckern; Kaffeebecher mit Deckel in der rechten Hand und eine große Mappe unter dem linken Arm. Sie marschierten ein, warteten geduldig im Hintergrund, traten in festgelegter Reihenfolge, die Mappe geöffnet, zu Passeraub, der die Ausdrucke langsam durchblätterte, mit Stiften Anmerkungen machte, Kreise, Pfeile, Schraffuren, die er erläuterte. An sein schwerfälliges Englisch hatte man sich scheinbar gewöhnt. Erst, wenn die Mappe geschlossen war, sah er Miss Gowin, Dr. Catherine Van Der Rin, Jack O’Hare oder Gene Sloane in die Augen, was seine Korrektur besiegelte und etwas Ungesagtes hinzufügte: Dies war nicht die Zeit, um eigenen Gedanken nachzugehen.
Dr. Van Der Rin: »Marleene, what did he exactly mean when he said …?« Peinlich, peinlich.
Zu den Verpflichtungen der Besucher aus Paris gehörten hektische Business-Lunches, bei denen die Angestellten schnatterten wie auf dem Schulhof, laute Betriebsscherze und feinziselierte Anekdötchen aus dem Hinterland Amerikas, was jedermanns Kindheit war. Marleen aß so wenig wie möglich, weil Passeraub sie am Abend ohnehin ins Restaurant einlud, und sie ließ sich nicht deshalb einladen, weil das Besteck aus Silber war und das Steak so überzeugend »rare«, sondern weil sie versuchte zu begreifen, wie ein Konzern funktionierte. Passeraub, das war unübersehbar, hatte IOM gut im Griff.
International Office Machines hatte mit Lochkartenspeichern begonnen, dann Fotosatzmaschinen, Fotokopierer, Taschenrechner und elektrische Schreibmaschinen gebaut. Die Strategie des Konzerns fasste Passeraub so zusammen: »In der ganzen Welt ist so getan worden, als müsste die technische Intelligenz einen Homunculus hervorbringen, einen elektronisch gesteuerten Arbeiter. IOM sind den anderen Weg gegangen. Es gibt nur eine Box, eine Schachtel, und da ist alles drin.«
»Nur Gehirn«, sagte Marleen.
»Rein operativ. Ausführend bleibt der Mensch. Der wird entlastet.«
»Man muss nicht mehr kopfrechnen.«
»Ach, das sowieso nicht. Aber es braucht auch keine Buchhalter mehr, jedenfalls keine, die Zahlenkolonnen erstellen. Der Konzern hat eine ganz neue Form des technischen Büros erfunden – und durchgesetzt. Das Einzige, was geblieben ist, ist die Sekretärin. Man sieht es ja bei IOM selbst. Aber auch das wird irgendwann vorbei sein.«
»Schreibmaschine, Telefon, Notizblock. Das wird alles abgeschafft?«
»Nicht das Telefon.«
Pause. Sie aßen und sahen zu den
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