Nichts Weißes: Roman (German Edition)
schwarzen aufgeplusterten Jacke, die auf der anderen Seite der Kreuzung, vor dem leeren Grundstück, in einen Telefonhörer schrie.
»Kjell hat sich ein Mädchen geangelt«, rief er. »Wie kann das sein?«
»Zeiten ändern sich«, antwortete Tom Bryan vom Hochbett, wo er las.
David: »Hol’n wir sie?«
»Das mache ich grade«, und schon war Tom Bryan mit einem Sprung auf den Holzdielen.
»Dieses Blümlein will ich brechen!«, brachte David näselnd hervor.
»Sag ihr, dass wir kommen!«, rief Tom Bryan, schon halb in Stiefeln. David lief zurück zum Telefon.
Kaum hatte Marleen aufgelegt, klingelte es. Sie nahm den Hörer ab. Eine automatische Stimme von AT & T sagte ihr, sie solle fünfundzwanzig Cent nachzahlen. Sie fühlte sich nicht gemeint und legte wieder auf. Das Telefon klingelte von Neuem. Sie hob nicht ab. Zwei Figuren kamen auf sie zu, zwischen ihnen ein Abstand, als wollten sie jemanden in die Mitte nehmen. Der eine hatte einen wohligen Eierkopf, kurz geschoren, ein gewisses Leuchten im Blick. Der andere war schmal, wie mit dem Bleistift gezeichnet, kraftvolle Haare bis fast auf die Schulter. Dieser nahm den Hörer ab, ließ ihn an der Strippe fallen, griff in die rechte Hosentasche und hatte dann drei Münzen in der Hand und eine Packung Kondome. Mit der linken nahm er den Quarter, schob ihn in den metallenen Telefonkasten, griff nach dem baumelnden Hörer, legte ihn auf und verstaute den Rest wieder in der Hosentasche. »Hello«, sagte er, was klang wie gesungen. »Ich bin Tom Bryan. Und was auch immer der dir gesagt hat, er heißt David.« Dann nahmen sie Marleen tatsächlich in die Mitte, kreuzten mit ihr die Broome Street, blieben stehen, schritten, als das Signal erschien, über den West Broadway und nahmen sie mit bis zum ersten Eingang im folgenden Block der Broome Street, eine metall- und blechbeschlagene Tür ohne Klingelanlage, mit zwei Schlössern, wovon Tom Bryan das eine, David das andere öffnete, als wären sie aneinandergekettet. Oben wiederholte sich das.
Wie auch immer David und Tom Bryan ihre Sonntagnachmittage verbrachten, war nicht auszumachen. Sie hatten wohlauf Marleen gewartet, oder auf eine wie sie, die nun in der Küche mit den wilden Farnen auf einem Stuhl saß und sich mit chinesischem Tee vollgießen ließ, während die jungen Männer in rhapsodischen Berichten und Beschreibungen vor ihrem inneren Auge die Karte Amerikas begannen auszupinseln: die fünf Boroughs; die Adirondacks; Cape Cod; Three Mile Island; die Mason-Dixon-Linie; das Mississippidelta. David sprach schnell, Tom Bryan langsam. David faltete Sätze auf wie Leporellos, Tom Bryan ließ sie plätschern wie Quellen. Für David waren die Dinge gemacht, für Tom Bryan gegeben. David hatte etwas zu verlieren, Tom Bryan hatte es schon verloren. Sie stellten ihr zahlreiche Fragen, natürlich, und freuten sich maßlos, als sie offenbarte, dass sie in einer Siedlung namens Pomona groß geworden war.
»Nimm keinen Apfel von diesem Mädchen!«, rief David.
»Bedecke deine Scham«, maulte Tom Bryan. Noch größeres Interesse fand die merkwürdige Geschichte ihres Vaters – wie kam denn das, dass Marleen davon sprach? –, der als Kind in die Nazischule gezwungen worden war, als junger Mann eine Blitzkarriere hingelegt hatte und in der Mitte seines Lebens alles, auch sie selbst, Marleen, zurückgelassen hatte, um später als Werbeguru wieder in Erscheinung zu treten. Schlimmer noch, sie kannte den Rückkehrer nur aus der Zeitung. Die beiden jungen Männer waren ganz still geworden, hatten den Kopf in einen Arm gestützt, und zwar symmetrisch, indirekt erleuchtet durch die angestrahlten Farne vom Hof her, David hell und gegenwärtig, Holland, und Tom Bryan aus einer andere Ära, Karthago. Übrigens, natürlich könne sie bleiben, sie müsse noch nicht einmal das Hochbett in der Nische nehmen, denn Kjells Bett sei schließlich frei, bis er, irgendwann, zurückkommen werde aus Schweden. Fast hätte Marleen gesagt, nein danke, ich wohne im Waldorf Astoria.
Am Montag sah sie IOM mit anderen Augen: die genormten Scheitel der Männer, die ausstaffierten Schultern der Frauen, die Acetatbrillen, die glänzenden Fingernägel. Sie alle dienten in der Büromaschinenarmee, Rang festgelegt, Aufstiegsmöglichkeit gegeben, und das Glashaus gegenüber den Vereinten Nationen war die Bühne, in der täglich dieselben Kämpfe aufgeführt wurden: die Spieler gegen die Verwalter, die Konservativen gegen die Erneuerer, die Finanzleute
Weitere Kostenlose Bücher