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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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Gegenteil alles, was stand und sich bewegte, aus eigener Kraft zu leuchten begann. Versunken in ihrer gefütterten Jacke saß sie niedrig, in Nachbarschaft des Feuerhydranten, ohne zu frieren. Jedes fünfte Auto war ein gelbes Taxi, fast jedes besetzt, die Scheiben meistens ein Stück heruntergelassen, so dass man von den Fahrgästen mindestens die Frisuren sah. Aber es waren nicht die Leute, die Marleen interessierten, sondern was auf die Beifahrertüren geschrieben war, der Fahrpreis für die erste Neuntelmeile und wie viel danach. Was für merkwürdige Ziffern, in ihren Rundungen wuchernd, aber an ihren schmalen Stellen nicht verbunden. Eine Schlange, die sich über einem Ast erhob, war eine »2«. Machte das jemand von Hand nach einer Vorlage? Oder gar freihändig, die Kalligrafie der Autolackierer? Sie versuchte, das Schriftmuster des einen Taxis zu speichern, um es mit dem nächsten abzugleichen, aber das Schwarz und das Gelb fingen an, vor ihren Augen zu flimmern, vielleicht, weil ein schwerer Benzingeruch in der Luft lag. Die Passanten vom Zebrastreifen kürzten den Weg ab und gingen, offenbar ohne sie zu sehen, sehr dicht an Marleen vorbei, die sich nicht rührte, über dem Kopf die Kapuze. Vor ihren Augen erschienen riesige, glatte Einkaufstüten mit den schwarzen und goldenen, sumpfgrünen und kupferfarbenen Signets benachbarter Luxusläden.Plötzlich stoppte vor ihr ein schwarzer Schriftzug, der in delikaten Versalien CHANEL buchstabierte, drehte sich so, dass die Buchstaben zusammenrückten wie Schornsteine in Fernsicht, und eine Hand, eine lange, feine, manikürte Hand näherte sich der Marleens, öffnete sie vorsichtig, hinterließ etwas, und für einen Moment erschien noch einmal frontal der Schriftzug, erleuchtet vom Rot der Ampel, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwand. Marleen prüfte, was es war. Es waren zehn Dollar mit dem stolzen Portrait eines Gründungsvaters.
    Am Samstag frühstückte Marleen mit Passeraub.
    »Und welcher Hälfte neigen Sie zu?«
    Er verstand, dass sie nicht das kleine weiße Brötchen meinte.
    »Ich fürchte, dass den Kaliforniern die Zukunft gehört. Deshalb versuche ich immer und jeden Tag und auf jeder Ebene zu demonstrieren, was für ein Präzisionsmedium die Schrift ist und bleibt. Man muss sich die Anwendung denken wie … ein Messer, das stumpf wird. Sicher, die Schriftgießereien im alten Stil sind am Ende. Die großen Satzbetriebe stehen vor gewaltigen, eigentlich gar nicht mehr zu leistenden Investitionen. Dennoch, ganz gleich, welchen technologischen Weg Schriften nehmen, sie müssen entworfen, systematisiert, gesteuert werden, oder nicht?«
    »Wissen Sie, wie hier die Taxis beschriftet werden?«
    Passeraub war perplex. Dann fing er sich.
    »Natürlich, mit Schablonen.«
    »Ach!«
    So wie es in irgendeinem Partysong hieß, »Rikki don’t lose that number«, hatte sich Marleen seit Roissy einen Zettel aufbewahrt, der sie nun, in der kleinen Extratasche ihrer Hose, wie ein Magnet nach Downtown zog. Man musste durch einen kommerziellen Schlund hindurch, Schmuddel und Glitzer, um am anderen Ende eine vertrautere Stadt zu finden, ein anderes London, eines nach Rasterplan, mit braunen und schwarzen Häusern, Feuerleitern zick-zack von ganz oben bis an die Oberkante des Erdgeschosses; mehrfach überlackierte Hydranten; mit floralen Motiven dekorierte, eiserne Säulen, die Schaufenster unterteilten; Stufen, die höher gelegene Treppenhäuser mit der Straße verknüpften. Auf einer saßen drei kakaobraune Mädchen und sangen vom kommenden Himmelreich.
    Das Telefonhäuschen bestand aus einer Plexiglashaube, von einem Pfeiler gehalten, dem Autoverkehr abgewandt. Es dröhnte derart, dass Marleen versucht war, den Anruf aufzuschieben und weiterzugehen. Hinter ihr gestikulierte jemand, sie ließ den vor, einen Strohblonden mit fast erstorbenen Augen, der eine lange Kombination wählte, sich mit dem Hörer das Ohr platt presste und in die Muschel schrie.
    »Von nix ’ne Ahnung«, bellte er, als er aufgehängt hatte, und stierte Marleen an, bevor er davonstürmte.
    Sie warf eine Münze ein und wählte die Nummer, die Kjell ihr gegeben hatte. Falls sie jemanden brauche, in New York. Auf der anderen Seite nahm jemand ab, war aber nicht zu verstehen und sagte dann gar nichts mehr.
    Im Broome-Street-Loft legte ein gewisser David den Hörer neben das Telefon und lief vor bis zum großen Fenster. Er sah eine junge Frau mit mausbraunen, halblangen Haaren in schwarzen Jeans mit einer

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