Nick Adams Stories
geworden bin, Littless», sagte er.
«Wir sollten jetzt erst mal anständig zu Mittag essen; dann brauchen wir uns heute abend keine Gedanken wegen des Feuers zu machen.»
«Jetzt bin ich auch unruhig geworden», sagte sie.
«Mach dir keine Gedanken. Es ist alles genauso wie vorher.»
«Aber er hat uns verscheucht. Er hat uns am Beerensammeln gehindert, ohne daß er überhaupt da war.»
«Ja, ich weiß. Aber er ist nicht hier gewesen. Vielleicht kriegen wir ihn nie mehr zu Gesicht.»
«Er jagt mir Angst ein, Nickie. Wenn er nicht da ist, jagt er mir noch mehr Angst ein, als wenn er da ist.»
«Ich weiß. Aber Angst haben, das bringt nichts ein.»
«Was sollen wir denn machen?»
«Ja, also … Mit dem Kochen, da warten wir doch besser, bis es dunkel ist.»
«Nanu? Auf einmal?»
«Nachts wird er sich hier nicht rumtreiben. Im Dunkeln kann er nicht durch den Sumpf kommen. Frühmorgens und spätabends brauchen wir uns keine Gedanken zu machen wegen ihm. Und nachts auch nicht. Wir müssen leben wie das Wild: nur in der Dunkelheit draußen sein und tagsüber unsichtbar.»
«Vielleicht kommt er nie.»
«Klar. Vielleicht nicht.»
«Aber ich kann trotzdem bleiben?»
«Ich sollte dich heimschicken.»
«Nein, Nickie – bitte nicht! Wer soll dich denn dann davon abhalten, ihn umzubringen?»
«Jetzt hör mal gut zu, Littless: Sprich nie von Umbringen. Und vergiß nicht, daß ich auch nie von Umbringen gesprochen habe. Es ist niemand umgebracht worden, und es wird auch niemand umgebracht werden.»
«Ehrenwort?»
«Ehrenwort.»
«Ach, ich bin froh, Nickie!»
«Du sollst auch nicht froh sein. Es ist einfach nie zur Sprache gekommen.»
«Gut. Ich hab nie daran gedacht, und ich hab’s nie ausgesprochen.»
«Ich auch nicht.»
«Natürlich nicht.»
«Ich hab nie im Entferntesten daran gedacht.»
Weiß Gott, dachte er; nie im Entferntesten daran gedacht … Bloß von morgens bis abends hab ich daran gedacht. Aber in ihrer Gegenwart darf ich nicht daran denken, weil sie es spürt, weil sie meine Schwester ist, und weil wir uns lieben.
«Hast du Hunger, Littless?»
«Och nö – nicht so richtig.»
«Iß ein bißchen von der Kochschokolade; ich hol frisches Wasser von der Quelle.»
«Ich brauch eigentlich nichts.»
Sie sahen hinüber zu den großen weißen Wolken, die von der Vormittagsbrise über die blauen Hügel jenseits des Sumpfes geblasen wurden. Der Himmel war hoch, klar und blau, und die Wolken zogen weiß herauf und lösten sich von den Hügeln und segelten vor der auffrischenden Brise hoch am Himmel daher, und ihre Schatten wanderten über den Sumpf und den Hügelhang. Der Wind rauschte jetzt in den Baumkronen, und als sie so im Schatten lagen, wurde es kühl. Das Quellwasser in dem Blecheimer war kalt und frisch, und die Schokolade war nicht sehr bitter, aber hart; sie krachte beim Kauen zwischen den Zähnen.
«Das Wasser ist so gut wie das aus der Quelle, wo wir sie zuerst gesehen haben», sagte seine Schwester. «Nach der Schokolade schmeckt’s sogar noch besser.»
«Wir können was kochen, wenn du Hunger hast.»
«Wenn du keinen hast, hab ich auch keinen.»
«Ich hab immer Hunger. Schön blöd von mir, die Beeren nicht zu holen.»
«Das stimmt nicht. Du wolltest zurück, um nachzusehen, was los ist.»
«Weißt du was? Hinten in dem Kahlschlag, durch den wir gekommen sind, da weiß ich eine Stelle, wo wir Beeren finden. Ich verstecke hier alles, und wir holen uns zwei Eimer voll, als Vorrat für morgen. Es ist gut gehen bis dahin – die ganze Zeit durch den Hochwald.»
«Einverstanden. Aber mir geht’s gut.»
«Kein Hunger?»
«Nein. Nach der Schokolade überhaupt nicht mehr. Am liebsten möcht ich hier bleiben und lesen. Wir haben einen hübschen Spaziergang gemacht, und gejagt haben wir auch.»
«Na schön», sagte Nick. «Bist du nicht mehr müde von gestern?»
«Na ja … ein bißchen.»
«Wir machen’s uns gemütlich. Ich lese ‹Stürmische Höhen› .»
«Liest du mir vor? Oder bin ich noch zu klein dafür?»
«Nein.»
«Also du liest mir vor?»
«Klar.»
Über den Mississippi
Der Zug nach Kansas City hielt kurz vor dem Ostufer des Mississippi auf einem Nebengleis, und Nick schaute hinaus auf die Straße, die knöcheltief mit Staub bedeckt war. Die Straße und ein paar grau eingestaubte Bäume, das war alles, was zu sehen war. Ein Fuhrwerk quälte sich die Furchen entlang; der Kutscher schaukelte in sich zusammengesunken über den Stößen seines federnden Sitzes
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