Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
Kerle vom Intelligence Service hereinkamen, um mein Verhalten mit mir zu besprechen. Das Ganze war eine beschissene Übung
gewesen! Sie hatten alle Ks bei ihrer Rückkehr nach England auf die Probe stellen wollen, aber leider den falschen Tatvorwurf gewählt. Die Polizeibeamten waren offenbar nicht bereit, lange auf eine Gerichtsverhandlung zu warten, wenn es darum ging, Kinderschänder zu
bestrafen. Das hatten wir alle sehr schmerzlich zu spüren bekommen. Ein K, der über Jersey eingereist war, hatte nach dieser Behandlung sogar ins Krankenhaus
eingeliefert werden müssen.
Kelly war noch ganz verschlafen und sah so mies aus, wie ich mich fühlte. Sie sah aus, fand ich, als habe sie irgendwo im Freien übernachtet. Jetzt streckte sie sich gähnend. Als sie die Augen öffnete und sich leicht desorientiert umsah, hielt ich ihr grinsend einen Pappbecher Orangensaft hin. »Na, wie fühlst du dich, Louise?«
Kelly schaltete nicht gleich, aber nach zwei bis drei Sekunden war sie wieder auf dem laufenden. »Danke, 511
ganz gut.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie grinsend hinzufügte: »Daddy.« Dann schloß sie die Augen und kuschelte sich wieder in ihre Decke. Ich brachte es nicht über mich, ihr zu sagen, daß wir bald landen würden.
Wenigstens konnte ich sie dazu überreden, den
Orangensaft zu trinken, während der Videofilm Welcome to London lief. Reichlich Prunk, Pomp und Pracht: die Leibgarde zu Pferd, marschierende Gardisten, die
Königin in ihrer Kutsche die Mall entlangfahrend.
London war mir noch nie so attraktiv erschienen.
Dann landete das Flugzeug und wir verwandelten uns wieder in Schauspieler.
Wir rollten übers Vorfeld zu unserer Abstellposition.
Alle sprangen auf, als hätten sie Angst, irgend etwas zu verpassen. Ich beugte mich zu Kelly hinüber. »Warte, wir haben’s nicht eilig.« Ich wollte mitten in der Menge mitschwimmen.
Schließlich war wieder alles in Kellys Rucksack
verstaut, so daß wir uns mit ihren Teddybären in die Schlange der Aussteigenden einreihen konnten. Ich versuchte nach vorn zu sehen, konnte aber nicht viel erkennen.
Wir erreichten die Bordküche, gingen nach links und schlurften zur Flugzeugtür weiter. Auf der Rampe waren zwei Männer in den mit Leuchtstreifen besetzten Jacken der British Airports Authority damit beschäftigt, eine Passagierin in ihren Rollstuhl zu setzen. Ich war wieder etwas optimistischer; die Freiheit schien zu winken.
Wir gingen die Rampe hinauf und folgten dem Tunnel 512
ins Ankunftsgebäude. Kelly wirkte unbefangen und
sorglos, was mir nur recht war; sie sollte am besten gar nicht ahnen, was für eine kritische Situation uns bevorstand.
Im Terminal herrschte lebhafter Fußgängerverkehr: Reisende liefen mit Handgepäck herum, betraten Duty-free-Shops, kamen aus diesen Läden oder drängten sich vor den Flugsteigen. Ich hatte meinen Laptop und Kellys Rucksack über der linken Schulter und hielt Kelly an der Hand. Sie trug ihre Teddybären. Wir erreichten den ersten Rollsteig.
Heathrow ist der am strengsten überwachte, mit den meisten Kameras ausgestattete und deshalb vermutlich sicherste Flughafen der Welt. Wir wurden schon jetzt von unzähligen Augenpaaren überwacht; dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um schuldbewußt oder verschlagen zu wirken. Der Rollsteig endete bei den Flugsteigen 43–47, und der nächste begann ungefähr zehn Meter weiter. Ich wartete, bis gerade niemand in unserer Nähe war, und beugte mich dann zu Kelly hinunter. »Also, vergiß nicht, daß ich heute dein Daddy bin … okay, Louise
Sandborn?«
»Und ob!« sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Ich konnte nur hoffen, daß wir in einer Viertelstunde beide noch lächeln würden.
Am Ende des Rollsteigs fuhren wir mit der Rolltreppe nach unten und folgten den Hinweisschildern zur
Paßkontrolle und Gepäckabholung. Unterwegs redete ich mit Kelly, um etwas zu tun zu haben, anstatt nervös auszusehen. Ich war schon mindestens hundertmal illegal 513
in irgendwelche Länder eingereist – aber noch nie so unvorbereitet oder unter so starkem Druck stehend.
»Alles klar, Louise?«
»Natürlich, Daddy.«
Ich hängte ihr den Rucksack um, um die Hände
freizuhaben, damit ich Reisepaß und Visumkarte aus der Jackentasche holen konnte. Wir schlenderten zur
Paßkontrolle weiter und stellten uns am Ende der
Schlange an. Ich erinnerte mich an einen amerikanischen Freund, der von Boston nach Montreal und von dort aus nach London weitergeflogen war. In
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