Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
ängstlich aus dem Fenster, als fürchte sie, aus ihrer vertrauten Umgebung entführt zu werden und sie zum letztenmal im Leben zu sehen.
»Ist schon gut, Kelly.« Ich versuchte, ihr übers Haar zu streichen.
Sie drehte ruckartig den Kopf weg.
Scheiße, sollte sie doch machen, was sie wollte; mit etwas Glück würde ich sie mir schon bald vom Hals schaffen können.
Ich dachte wieder an Kev. Er hatte gesagt, er habe Informationen über meine »Freunde jenseits des
Wassers«. War er etwa von der PIRA umgelegt worden?
Warum, verdammt noch mal? Daß sie in Amerika ein
Attentat dieser Art verüben ließ, war äußerst
unwahrscheinlich. Sie war zu clever, um die Hand zu beißen, von der sie gefüttert wurde.
Andere Dinge waren mir rätselhaft. Warum hatte es keinen Kampf gegeben? Marsha und Kev hatten natürlich gewußt, wo die Waffen versteckt waren. Warum waren sie nicht benutzt worden? Warum hatte die Haustür offengestanden? Das konnte kein Zufall gewesen sein. In Kevs Haus spazierte man nicht einfach von der Straße aus hinein; man betrat es nur auf Einladung.
Ich fühlte Wut in mir aufsteigen. Wäre die Familie 86
Brown bei einem Verkehrsunfall umgekommen, wäre das Schicksal gewesen. Wären die Killer ins Haus
eingedrungen und hätten sie beispielsweise erschossen, wäre ich zornig gewesen, aber ich hätte mir auch gesagt, daß jemand, der durchs Schwert lebt, damit rechnen muß, durchs Schwert umzukommen. Aber nicht auf diese
Weise. Sie waren scheinbar grundlos bestialisch ermordet worden.
Ich zwang mich dazu, rational zu denken. Auf keinen Fall konnte ich die Polizei anrufen und meine Version der Ereignisse zu Protokoll geben. Trotz meiner
Abberufung arbeitete ich noch in einem befreundeten Land, ohne daß die zuständigen Stellen zugestimmt hatten. Solche Dinge passierten auch in Großbritannien, aber man durfte sich unter keinen Umständen erwischen lassen. Mein hiesiger Einsatz würde als Heimtücke ausgelegt werden und die amerikanischen Kollegen
mißtrauisch machen. Daß der SIS sich schützend vor mich stellen würde, brauchte ich nicht zu hoffen – wozu gab es schließlich Unternehmen, die man notfalls leugnen konnte? Ich war auf mich allein gestellt.
Ein Blick zu meiner Beifahrerin zeigte mir, daß ich ein Problem hatte. Auf der Weiterfahrt nach Tyson’s Corner wurde mir klar, was ich tun mußte. Links voraus sah ich ein Hotel der Best-Western-Kette und rechts ein
Einkaufszentrum mit einzelnen Läden. Ich mußte den Leihwagen loswerden, weil er – falls ich beobachtet worden war – eine der Verbindungen zwischen mir und dem Haus war. Ich mußte ihn irgendwo abstellen, wo er nicht isoliert stand – auf einem Parkplatz ohne
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Videoüberwachung. Neben dem Einkaufszentrum mit
seinen weitläufigen Parkflächen gab es am Rand auch einen Burger King mit eigenem Parkplatz.
Es ist ganz einfach, einen Wagen tagsüber auf einem Parkplatz zwischen Hunderten von Autos
zurückzulassen, aber nach Ladenschluß steht er vielleicht auffällig allein da und wird von der nächsten
Polizeistreife kontrolliert. Ich suchte einen Parkplatz, auf dem Tag und Nacht viel Betrieb herrschte. Mehrstöckige Parkhäuser kamen nicht in Frage, weil sie zu neunzig Prozent videoüberwacht wurden, um Überfälle und
Autoeinbrüche zu verhindern. Viele Parkhäuser hatten auch eine Videokamera installiert, die bei der Einfahrt den Fahrer und das Kennzeichen aufnahm. An vielen großen Kreuzungen und entlang wichtiger Straßen
standen Videokameras zur Verkehrsüberwachung. Falls mein Wagen vor Kevs Haus bemerkt worden war, würde die Polizei als erstes diese Filme und die
Videoaufnahmen aus Parkhäusern auswerten.
»Holen wir uns Hamburger und Milchshakes?« schlug ich vor. »Magst du Milchshakes? Paß auf, ich stelle den Wagen ab, und wir gehen vielleicht sogar einkaufen.«
Jedenfalls durften wir nicht vor dem Burger King
parken, aussteigen und ein paar hundert Meter weit zum Einkaufszentrum hinübergehen – das tat kein Mensch.
Irgend jemand konnte sich später wahrscheinlich daran erinnern, uns als Fußgänger gesehen zu haben, deshalb mußte ich versuchen dafür zu sorgen, daß wir möglichst normal wirkten.
»Erdbeer oder Vanille – was möchtest du?«
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Keine Antwort.
»Schokolade? Komm, ich nehme auch Schokolade.«
Nichts.
Ich parkte den Wagen. Der Parkplatz war ziemlich
voll. Ich umfaßte ihr Kinn mit einer Hand und drehte ihren Kopf sanft zu mir her, so daß Kelly mich freundlich lächeln
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