Nick Stone - 01 - Ferngesteuert
ich nicht wußte, ob sie nickte oder den Kopf schüttelte.
Ich öffnete den Kühlschrank in der Hoffnung, darin etwas zu finden, das Kelly trösten würde. In einem Fach lagen zwei bereits angegessene, große Ostereier.
»Mmmm … möchtest du etwas Schokolade?«
Mit Kelly hatte ich mich immer gut verstanden. Ich hielt sie für ein großartiges Mädchen – und das nicht nur, weil sie die Tochter meines Kumpels war. Ich lächelte ihr herzlich zu, aber sie starrte die Tischplatte an.
Ich brach ein paar Stücke Schokolade ab und legte sie auf einen der Dessertteller, die sie vermutlich vorhin mit Aida auf den Tisch gestellt hatte. Dann machte ich das verdammte Radio aus; für heute hatte ich von
entspannendem Softrock die Nase voll.
Als ich sie erneut betrachtete, wurde mir plötzlich klar, daß ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Was sollte ich mit ihr anfangen? Ich konnte sie nicht einfach
zurücklassen; der Rest ihrer Familie lag tot im ganzen Haus verstreut. Und vor allem kannte sie mich. Wenn die Polizei kam, konnte sie sagen: »Nick Stone ist hier gewesen.« Die Polizei würde schnell herausbekommen, daß Nick Stone ein Freund ihres Daddys war, von dem es hier im Haus zahlreiche Photos gab. Und wenn sie den beim Grillen aufgenommenen grinsenden Besoffenen
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verhaftete, würde sie feststellen, daß er aus
unerklärlichen Gründen gar nicht Nick Stone, sondern Mrs. Stamfords kleiner Junge war. Folglich wurde es Zeit, schleunigst zu verschwinden.
Kevs Jackett hing über einer der Stuhllehnen. »Komm, wir wickeln dich in Daddys Jacke, dann hast du’s
wärmer«, schlug ich vor. So hatte sie wenigstens etwas von ihrem Vater; mit etwas Glück würde sie das
aufheitern.
Ihre ganze Antwort bestand aus einem kurzen
Wimmern. Sie war fast steif vor Schock, obwohl sie diesmal wenigstens den Kopf bewegt hatte, um mich anzusehen. An diesem Punkt hätte ich sie normalerweise Marsha überlassen, denn Kinderpsychologie war mir viel zu kompliziert. Aber das konnte ich heute nicht tun.
Ich wickelte Kelly in die Jacke ein und sagte dabei:
»So, die hält dich schön warm. Hey, das ist Daddys Jacke! Das sagen wir ihm lieber nicht, was, hahaha!« Ich ertastete etwas Solides in einer der Jackentaschen und zog Kevs Mobiltelefon heraus. »Oh, sieh mal, damit können wir ihn später anrufen.«
Ich warf einen Blick aus dem Fenster – kein Mensch zu sehen. Ich griff nach dem Müllsack, nahm Kelly an der Hand und merkte dann, daß wir die Küche verlassen und durch die Diele mußten, um zur Haustür zu
gelangen.
»Bleib einen Augenblick hier sitzen«, sagte ich. »Ich muß noch was erledigen.«
Draußen überzeugte ich mich davon, daß wirklich alle Türen geschlossen waren. Ich dachte nochmals an meine 84
Fingerabdrücke, aber falls ich welche übersehen hatte, war das nicht mehr zu ändern. Ich wollte nur noch weg und Kelly von der Polizei fernhalten, bis ich eine Möglichkeit gefunden hatte, aus diesem Schlamassel rauszukommen.
Ich ging zurück, holte Kelly und sah nochmals nach draußen, ohne eine Bewegung wahrzunehmen. Sie schien kaum gehen zu können. Ich mußte den Kragen von Kevs Jackett packen und sie halb zum Auto hinausschleifen.
Ich setzte sie auf den Beifahrersitz. »So, hier hast du’s schön und warm«, sagte ich lächelnd. »Paß gut auf Daddys Jacke auf, ja? Er freut sich bestimmt, wenn er sieht, wie gut du dich um sie kümmerst.«
Dann warf ich den Müllsack auf den Rücksitz, setzte mich ans Steuer, legte meinen Sicherheitsgurt an und ließ den Motor an. Wir fuhren in vernünftigem Tempo los, nicht so schnell, daß jemand auf uns aufmerksam werden konnte.
Nach ein paar hundert Metern fiel mir etwas ein; ich sah zu ihr hinüber und sagte: »Kelly, du mußt dich anschnallen. Das kannst du doch selbst, nicht wahr?«
Sie bewegte sich nicht, erwiderte nicht mal meinen Blick. Ich mußte ihr den Sicherheitsgurt anlegen.
Ich versuchte, Konversation zu machen. »Schönes Wetter heute, nicht wahr? Klar, du bleibst jetzt ’ne Zeitlang bei mir, bis alles wieder in Ordnung ist.«
Schweigen.
Ich konzentrierte mich wieder auf mein Hauptproblem.
Was sollte ich tun? Unabhängig davon, wofür ich mich 85
entschied, waren wir hier jedenfalls am falschen Ort; wir mußten irgendwo in der Menge untertauchen. Ich fuhr in Richtung Tyson’s Corner.
Ich sah wieder lächelnd zu Kelly hinüber und gab mir Mühe, den unbekümmert fröhlichen Onkel Nick zu
spielen, aber das gelang mir einfach nicht. Sie starrte
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