Nick Stone - 04 - Eingekreist
fragte mich, wohin die alten Männern jetzt gingen, um es ein bisschen
warm zu haben.
Wir waren wieder kurz vor der U-Bahn-Station
Elephant and Castle. Die Musik ging zu Ende, und eine Sprecherin verlas die letzten Meldungen über den
Anschlag, der London erschüttert hatte. Nach
unbestätigten Berichten, sagte sie, seien drei Personen bei einem Feuergefecht mit der Polizei erschossen
worden, und bei dem Bombenanschlag in Westminster
habe es zehn bis fünfzehn Leichtverletzte gegeben, die in einem Krankenhaus behandelt würden. Tony Blair hatte in seiner Villa in Italien seine absolute Empörung zu Protokoll gegeben, und die Notfalldienste befanden sich in erhöhter Alarmbereitschaft, weil weitere Anschläge nicht ausgeschlossen wurden. Bisher hatte noch
niemand die Verantwortung für den Anschlag
übernommen.
Wir umrundeten den Kreisel über Elephant and
Castle, bogen nach Kennington ab und machten Platz, als zwei Polizeifahrzeuge mit Sirenengeheul an uns
vorbeirasten.
Sundance drehte sich zu mir um und schüttelte mit
gespielter Missbilligung den Kopf. »Ts, ts, ts – sehen Sie, Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft, also 70
wirklich!«
Als es nach den Nachrichten mit Musik weiterging,
sah ich wieder aus dem Fenster. Ich war eine Gefahr für mich selbst, nicht für die Gesellschaft. Warum konnte ich zur Abwechslung nicht mal einen weiten Bogen um Scheiße machen, statt zielsicher darauf zuzusteuern?
Wir fuhren an der U-Bahn-Station Kennington vorbei
und bogen rechts in eine ruhige Wohnstraße ab. Das
Straßenschild fehlte, und das Brett, auf dem es
angeschraubt gewesen war, war mit Graffiti bedeckt. Als wir ein weiteres Mal abbogen, musste der Fahrer
bremsen, weil vor uns sechs oder sieben Jungen mitten auf der Straße damit beschäftigt waren, einen Fußball gegen die Giebelwand eines Hauses aus der Zeit um die Jahrhundertwende zu kicken. Sie machten eine Pause, um uns durchzulassen, und setzten dann sofort ihre
Bemühungen fort, die Mauer zu demolieren.
Wir fuhren nur ungefähr vierzig Meter weiter, dann
hielten wir an. Als Sundance auf seinen
Schlüsselanhänger drückte, begann sich das mit Graffiti bedeckte Stahltor einer Doppelgarage zu öffnen. Rechts und links war das Tor von pockennarbigem
Klinkermauerwerk eingefasst; über ihm befand sich ein verrosteter Eisenrahmen, der früher wahrscheinlich eine Leuchtreklame getragen hatte. Der löchrige Asphalt vor der Garage war mit leeren Getränkedosen übersät. Ihr Inneres war völlig leer. Als wir hineinfuhren, sah ich, dass die Klinkerwände ringsum mit Lochplatten
verkleidet waren, auf denen verblasste rote Umrisse zeigten, welche Werkzeuge dort hängen sollten. Vor
71
Jahren war dies wahrscheinlich eine Einmann-
Autowerkstatt gewesen. An der Seitentür hing ein
verblichenes Plakat mit der Mannschaft des Chelsea FC.
Lange Mähnen, Koteletten und sehr knappe Hosen
deuteten auf eine Aufnahme aus den Siebzigerjahren hin.
Hinter mir ratterte das Garagentor quietschend nach unten und sperrte allmählich den Lärm aus, den die
Jungen mit dem Fußball machten. Der Motor wurde
abgestellt, und die drei Kerle begannen auszusteigen.
Sundance verschwand durch die Tür mit dem
Mannschaftsposter und ließ sie offen stehen – hoffentlich auch für mich. Ich wünschte mir nichts mehr, als
aussteigen zu dürfen und die schmerzhaft drückenden Handschellen loszuwerden. Vielleicht würde ich sogar einen Becher Tee bekommen. Ich hatte seit gestern
Abend nichts mehr gegessen oder getrunken; es hatte so viel zu tun gegeben, dass ich einfach nicht daran gedacht hatte. Allein die Anbringung des Sprengsatzes auf dem Hoteldach hatte mich vier Stunden Zeit gekostet, und ein McMuffin mit Ei war das Allerletzte gewesen, woran ich gedacht hatte.
Während ich beobachtete, wie die Tür sich langsam
schloss und wieder die Pilzköpfe sichtbar werden ließ, beugte Laufschuhe sich nach unten und schloss die
Handschellen auf, mit denen ich an den Rücksitz
gefesselt war. Dann wurde ich von dem Fahrer und ihm gepackt und aus dem Wagen gezerrt. Als wir uns in
Richtung Tür bewegten, begann ich das Gefühl zu
haben, ich würde vielleicht doch noch einmal
davonkommen. Aber dann warnte ich mich selbst vor
72
übertriebenem Optimismus: Was hier geschah, hatte
nichts zu bedeuten, bevor ich vor dem Jasager stand und ihm vortrug, was ich zu sagen hatte. Ich beschloss, mein Bestes zu tun, um diese Jungs nicht zu verärgern,
während wir warteten.
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