Nick Stone - 04 - Eingekreist
der
Feuerstellungen der Scharfschützen, und kündigten
weitere Bildreportagen im Inneren an. Ich hielt mich einfach an der Haltestange fest, starrte die Dot-com-Urlaubsangebote an, ohne sie wirklich lesen zu wollen, und ließ meinen Kopf kraftlos von einer Seite zur
anderen schwanken, während wir nach Norden
rumpelten. Ich war benommen, versuchte zu begreifen, was passiert war, und schaffte es nicht.
Was konnte ich tun, um Kelly zu schützen? Nach
Maryland fliegen, sie dort rausholen und mit ihr in die Wälder flüchten? Sie Josh wieder wegzunehmen, war
reine Phantasie: Das hätte sie noch mehr durcheinander gebracht, als sie bereits war. Außerdem hätte das auf Dauer nichts genützt; wollte die Firma sie liquidieren, würde sie Kelly irgendwann beseitigen lassen. Musste ich nicht Josh warnen? Unnötig, denn die Firma würde nur aktiv werden, wenn ich versagte. Warum sollte ich ihn außerdem noch mehr aufregen, als ich’s bereits getan hatte?
Ich ließ den Kopf hängen und starrte meine Füße an, 98
als wir einen U-Bahnhof erreichten, auf dem die Leute schrecklich drängelten, um gleichzeitig ein- und
auszusteigen. Ich wurde geschubst und angerempelt und stöhnte unwillkürlich vor Schmerzen.
Während sich der Zug wieder füllte, forderte uns eine missmutige Stimme auf, gefälligst ins Wageninnere
weiterzugehen, und danach schlossen die Türen sich
wieder.
Ich wusste nicht, ob der Jasager bluffte. Und selbst wenn ich den Auftrag offenbarte, würde das Sundance und Laufschuhe nicht daran hindern, ihre kleine Reise nach Maryland zu machen. Es gab genügend serbische
Familien, die jetzt ein oder zwei Kinder weniger hatten, weil Daddy sich im Balkankrieg den Forderungen der
Firma widersetzt hatte, und ich wusste, dass diese
Methode weiterhin in Gebrauch war.
Obwohl ich mir größte Mühe gab, konnte ich nicht
aufhören, mir Kelly schlafend vorzustellen – mit ihrem Haar übers Kopfkissen ausgebreitet, während sie davon träumte, ein Popstar zu sein. Der Jasager hatte Recht: So sahen sie wundervoll und verwundbar zugleich aus.
Das Blut drohte mir in den Adern zu gefrieren, als mir klar wurde, dass das Ende dieses Jobs keineswegs das Ende der Drohungen bedeuten würde. Die Firma würde
mich immer wieder mit Kelly erpressen.
Wir hielten auf einem anderen U-Bahnhof, und die
Menge verebbte und flutete dann wieder herein. Ich
holte tief Luft und atmete langsam aus. Meine Beine begannen schmerzhaft zu kribbeln. Wie ich die Sache auch drehte und wendete, mir blieb nichts anderes übrig, 99
als den Jungen zu beseitigen. Nein, nicht den Jungen , ich musste mich präzise ausdrücken; wie der Jasager
festgestellt hatte, war er ein junger Mann – einige der Gewehre, die vor vielen Jahren in einer Flugzeughalle durchgeladen worden waren, hatten jüngere Leute als er in den Händen gehalten.
Ich hatte echt Scheiße gebaut. Ich hätte ihn gestern liquidieren sollen, als die Gelegenheit günstig gewesen war. Führte ich diesen Auftrag nicht aus, würde Kelly sterben, so einfach war das, und das durfte ich nicht zulassen. Ich würde nicht wieder Scheiße bauen. Ich würde tun, was der Jasager verlangte, und ich würde den Job bis spätestens Freitagabend erledigen.
Die U-Bahn hielt erneut, und die meisten Fahrgäste
stiegen aus, um zu ihrem Arbeitsplatz in der City zu gelangen. Ich war vollkommen erledigt und ließ mich auf einen Sitz fallen, bevor meine Beine nachgaben.
Während ich mir Schweißperlen von der Stirn wischte, musste ich wieder an Kelly und daran denken, dass ich nach Panama fliegen und dort jemanden ermorden
würde, nur damit Josh sie haben konnte, um sich um sie zu kümmern. Das war Wahnsinn, aber was war daran neu?
Josh war heutzutage vielleicht nicht gerade mein
Kumpel, aber für mich weiter einem Kumpel am
ähnlichsten. Er schien mit zusammengebissenen Zähnen zu sprechen, aber er erzählte mir wenigstens von Kelly.
Sie lebte seit Mitte August bei Josh und seinen Kindern
– seit ihre Therapiesitzungen in London, wo der Jasager mir den Auftrag mit den Scharfschützen erteilt hatte, 100
vorzeitig beendet worden waren.
Sie hatte sich noch nicht völlig von ihrer durch Stress ausgelösten posttraumatischen Funktionsstörung erholt, und ich wusste nicht, ob sie das je tun würde. Von dem Schock, seine ganze Familie mit eingeschlagenem
Schädel daliegen zu sehen, musste man sich erst einmal erholen. Aber sie war eine Kämpfernatur, genau wie ihr Vater, und hatte in diesem
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