Nick Stone - 04 - Eingekreist
Sommer dramatische
Fortschritte gemacht. Sie hatte sich aus einem kaum ansprechbaren Häufchen Elend in ein Mädchen
verwandelt, das nun auch außerhalb des privaten
Pflegeheims in Hampstead, in dem sie den größten Teil der letzten zehn Monate zugebracht hatte, funktionieren konnte. Sie ging noch nicht mit Josh’ Kindern in die Schule, aber das würde bald kommen. Ich hoffte es
zumindest: Sie brauchte Privatunterricht, der nicht gerade billig war, und jetzt hatte der Jasager mir die zweite Hälfte des Honorars gestrichen …
Seit März hatte ich mich dazu verpflichten müssen,
Kelly dreimal pro Woche zu Therapiesitzungen in
Chelsea zu begleiten, und an allen übrigen Wochentagen hatte ich sie in ihrem Pflegeheim in Hampstead besucht.
Zu der luxuriösen Klinik The Moorrings waren Kelly
und ich immer mit der U-Bahn gefahren. Manchmal
hatten wir uns während der Fahrt unterhalten, meistens über Kindersendungen im Fernsehen; manchmal hatten
wir die Strecke schweigend zurückgelegt. Und
manchmal hatte Kelly sich nur an mich geschmiegt und geschlafen.
Dr. Hughes war Mitte fünfzig und sah in ihrem
101
Ledersessel eher wie eine US-Fernsehmoderatorin als wie eine Seelenklempnerin aus. Mir gefiel es nicht
besonders, wenn Kelly etwas sagte, das Hughes für
bedeutungsvoll hielt. Dann neigte sie ihren eleganten Kopf leicht zur Seite und sah mich über ihre
goldgefasste Halbbrille an. »Was empfinden Sie dabei, Nick?«
Meine Antwort lautete immer gleich: »Wir sind
wegen Kelly hier, nicht meinetwegen.« Das kam daher, dass ich emotional verkümmert war. Ich musste es wohl sein – Josh hatte es mir gesagt.
Die U-Bahn hielt ruckelnd und quietschend in
Camden Town. Ich schloss mich einem grünhaarigen
Punk, Geschäftsleuten in Anzügen und ein paar
Touristen an, die früh unterwegs waren, und wir fuhren alle die Rolltreppe hinauf. Auf der Camden High Street herrschte lebhafter Auto- und Fußgängerverkehr.
Empfangen wurden wir von einem weißen Rastafari, der mit drei Bohnensäcken jonglierte und auf milde Gaben hoffte, und einem alten Säufer, der mit seiner Dose Tennants in der Hand darauf wartete, dass der Pizza Express aufmachte, damit er hingehen und die Gäste
durchs Fenster beschimpfen konnte. Um uns herum
hallte der Lärm von Presslufthämmern von der
Baustelle gegenüber und ließ sogar die
vorbeikommenden Autofahrer zusammenzucken.
Ich spielte mit dem Tod, als ich die Straße überquerte, um im Superdrug etwas Wasch- und Rasierzeug zu
kaufen, und latschte dann mit in den Hosentaschen
vergrabenen Händen und hängendem Kopf wie ein
102
niedergeschlagener Teenager die High Street entlang, um irgendwo zu frühstücken. Ich watete durch KFC-Schachteln, Kebab-Papier und zersplitterte Bacardi-
Breezer-Flaschen, die nach der letzten Nacht noch nicht zusammengekehrt worden waren. Wie ich entdeckt
hatte, als ich hergezogen war, gab es hier
unverhältnismäßig viele Pubs und Clubs.
Die Camden High Street und ihre Märkte schienen
ziemlich viele Touristen anzulocken. Es war erst kurz vor zehn Uhr, aber die meisten Klamottenläden hatten bereits eine erstaunliche Auswahl an Kleidungsstücken vor ihren Läden hängen – von psychedelischen Hosen
mit Schlag über Bondagehosen aus Leder bis hin zu
mehrfarbigen Doc Martens. Das Verkaufspersonal
bemühte sich unaufhörlich, Norweger oder Amerikaner, die Tagesrucksäcke trugen und Stadtpläne in den
Händen hielten, mit lauter Musik und einem Lächeln
hereinzulocken.
Ich ging unter dem Baugerüst hindurch, das den
Gehsteig an der Ecke zur Inverness Street überspannte, und wurde von dem bosnischen Flüchtling, der dort
geschmuggelte Zigaretten aus einer Sporttasche
verkaufte, mit einem Nicken begrüßt. Er hielt den
Vorbeigehenden ein paar Stangen hin und sah in seiner Bomberjacke aus Kunstleder und seiner Jogginghose
genau so aus, wie ich mich fühlte – des Lebens
überdrüssig. Wir kannten uns vom Sehen, und ich
erwiderte sein Nicken, bevor ich nach links in den
Einkaufsmarkt abbog. Mein Magen war so leer, dass er wehtat, was die Schmerzen von den Fußtritten noch
103
verstärkte. Ich freute mich wirklich auf ein Frühstück.
Das Café war voller Bauarbeiter, die gerade eine
Pause machten. Ihre schmutzig gelben Schutzhelme
waren wie die Helme in einer Feuerwache an der Wand entlang aufgereiht, während sie sich mit dem ganztägig angebotenen Frühstück für drei Pfund voll stopften. In dem Raum hing der Dunst aus
Weitere Kostenlose Bücher