Nick Stone - 04 - Eingekreist
Drohungen bedeuten würde. Die Firma würde mich immer wieder mit Kelly erpressen.
Wir hielten auf einem anderen U-Bahnhof, und die Menge verebbte und flutete dann wieder herein. Ich holte tief Luft und atmete langsam aus. Meine Beine begannen schmerzhaft zu kribbeln. Wie ich die Sache auch drehte und wendete, mir blieb nichts anderes übrig, als den Jungen zu beseitigen. Nein, nicht den Jungen, ich musste mich präzise ausdrücken; wie der Jasager festgestellt hatte, war er ein junger Mann — einige der Gewehre, die vor vielen Jahren in einer Flugzeughalle durchgeladen worden waren, hatten jüngere Leute als er in den Händen gehalten.
Ich hatte echt Scheiße gebaut. Ich hätte ihn gestern liquidieren sollen, als die Gelegenheit günstig gewesen war. Führte ich diesen Auftrag nicht aus, würde Kelly sterben, so einfach war das, und das durfte ich nicht zulassen. Ich würde nicht wieder Scheiße bauen. Ich würde tun, was der Jasager verlangte, und ich würde den Job bis spätestens Freitagabend erledigen.
Die U-Bahn hielt erneut, und die meisten Fahrgäste stiegen aus, um zu ihrem Arbeitsplatz in der City zu gelangen. Ich war vollkommen erledigt und ließ mich auf einen Sitz fallen, bevor meine Beine nachgaben. Während ich mir Schweißperlen von der Stirn wischte, musste ich wieder an Kelly und daran denken, dass ich nach Panama fliegen und dort jemanden ermorden würde, nur damit Josh sie haben konnte, um sich um sie zu kümmern. Das war Wahnsinn, aber was war daran neu?
Josh war heutzutage vielleicht nicht gerade mein Kumpel, aber für mich weiter einem Kumpel am ähnlichsten. Er schien mit zusammengebissenen Zähnen zu sprechen, aber er erzählte mir wenigstens von Kelly. Sie lebte seit Mitte August bei Josh und seinen Kindern
— seit ihre Therapiesitzungen in London, wo der Jasager mir den Auftrag mit den Scharfschützen erteilt hatte,
vorzeitig beendet worden waren.
Sie hatte sich noch nicht völlig von ihrer durch Stress ausgelösten posttraumatischen Funktionsstörung erholt, und ich wusste nicht, ob sie das je tun würde. Von dem Schock, seine ganze Familie mit eingeschlagenem Schädel daliegen zu sehen, musste man sich erst einmal erholen. Aber sie war eine Kämpfernatur, genau wie ihr Vater, und hatte in diesem Sommer dramatische Fortschritte gemacht. Sie hatte sich aus einem kaum ansprechbaren Häufchen Elend in ein Mädchen verwandelt, das nun auch außerhalb des privaten Pflegeheims in Hampstead, in dem sie den größten Teil der letzten zehn Monate zugebracht hatte, funktionieren konnte. Sie ging noch nicht mit Josh’ Kindern in die Schule, aber das würde bald kommen. Ich hoffte es zumindest: Sie brauchte Privatunterricht, der nicht gerade billig war, und jetzt hatte der Jasager mir die zweite Hälfte des Honorars gestrichen .
Seit März hatte ich mich dazu verpflichten müssen, Kelly dreimal pro Woche zu Therapiesitzungen in Chelsea zu begleiten, und an allen übrigen Wochentagen hatte ich sie in ihrem Pflegeheim in Hampstead besucht. Zu der luxuriösen Klinik The Moorrings waren Kelly und ich immer mit der U-Bahn gefahren. Manchmal hatten wir uns während der Fahrt unterhalten, meistens über Kindersendungen im Fernsehen; manchmal hatten wir die Strecke schweigend zurückgelegt. Und manchmal hatte Kelly sich nur an mich geschmiegt und geschlafen.
Dr. Hughes war Mitte fünfzig und sah in ihrem
Ledersessel eher wie eine US-Fernsehmoderatorin als wie eine Seelenklempnerin aus. Mir gefiel es nicht besonders, wenn Kelly etwas sagte, das Hughes für bedeutungsvoll hielt. Dann neigte sie ihren eleganten Kopf leicht zur Seite und sah mich über ihre goldgefasste Halbbrille an. »Was empfinden Sie dabei, Nick?«
Meine Antwort lautete immer gleich: »Wir sind wegen Kelly hier, nicht meinetwegen.« Das kam daher, dass ich emotional verkümmert war. Ich musste es wohl sein — Josh hatte es mir gesagt.
Die U-Bahn hielt ruckelnd und quietschend in Camden Town. Ich schloss mich einem grünhaarigen Punk, Geschäftsleuten in Anzügen und ein paar Touristen an, die früh unterwegs waren, und wir fuhren alle die Rolltreppe hinauf. Auf der Camden High Street herrschte lebhafter Auto- und Fußgängerverkehr. Empfangen wurden wir von einem weißen Rastafari, der mit drei Bohnensäcken jonglierte und auf milde Gaben hoffte, und einem alten Säufer, der mit seiner Dose Tennants in der Hand darauf wartete, dass der Pizza Express aufmachte, damit er hingehen und die Gäste durchs Fenster beschimpfen konnte.
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