Nick Stone - 05 - Tödlicher Einsatz
am
jenseitigen Ufer hinüber.
»Mom war oft mit mir hier, als ich noch klein war«, erklärte Carrie. »Sie hat gesagt, dies sei Marbleheads Gangway zur Welt. In den Ohren einer Zehnjährigen hat das ziemlich magisch geklungen, kann ich dir sagen. Mir ist’s vorgekommen, als sei meine Heimatstadt der
Mittelpunkt des Universums.«
Das erschien mir noch jetzt ziemlich magisch. Der Ort, an dem ich aufgewachsen war, war der Mittelpunkt eines Scheißhaufens gewesen.
»Sie hat mir immer alle möglichen Geschichten erzählt
– von Fischerbooten, die von hier zu den Grand Banks ausgelaufen sind, von Seeleuten, die sich hier versammelt haben, um am Unabhängigkeitskrieg und am Krieg von 1812 teilzunehmen.« Carrie lächelte. »Siehst du, du bist hier nicht der einzige Amateurhistoriker. Ich hoffe, du bist beeindruckt.« Ihr Lächeln verblasste langsam, als sie an etwas anderes dachte. Sie blickte mir in die Augen, dann sah sie wieder von mir weg übers Wasser. »Nick, ich weiß eigentlich nicht, wie ich damit anfangen soll.«
Ich streichelte ihre Hand. Ich wusste nicht, worauf sie hinauswollte, aber ich vermutete, dass es mit Aaron zusammenhing. Vor meinem inneren Auge stand
plötzlich die Szene, wie er in Panama unter Bewachung in dem Lagerraum saß und eine Zigarette rauchte. Seine Nase war blutig, seine Augen waren fast zugeschwollen, aber er lächelte – vielleicht war er bei seiner letzten Zigarette in dem Bewusstsein glücklich, dass er uns anderen die Flucht in den Dschungel ermöglicht hatte.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn dort rausholen sollte. Ich war unbewaffnet; meine Möglichkeiten waren gleich null. Dann nahm Aaron mir die Entscheidung ab: Die Tür flog auf, und er stürmte in die Nacht hinaus.
Als er in die Dunkelheit davonstolperte, kam ein
langer Feuerstoß aus einem M-16 aus dem Haus. Dann erreichte sein Bewacher die Tür, zielte blitzschnell und ließ einen kürzeren Feuerstoß folgen.
Ich hörte ein schmerzhaftes Keuchen, dann einen
schrecklichen, lang gezogenen Schrei. Danach folgte die Art Stille, die mir sagte, dass er tot war.
»Ich war mit Aaron hier, weißt du, kurz nachdem wir uns kennen gelernt hatten. Wir sind von Panama
raufgekommen, um hier Urlaub zu machen. Ich wusste, dass das meine Eltern schockieren würde. Aber wie sich zeigte, hatten sie damals ganz andere Sorgen. George war zu sehr damit beschäftigt, die von der jeweiligen Regierung als böse bezeichneten Kerle zu bekämpfen, um überhaupt wahrzunehmen, dass ich da war. Das hätte mich nicht wundern dürfen. Er konnte sich nicht einmal an Moms Geburtstag erinnern. Also sind wir nach
Panama zurückgeflogen, und ich habe weiter studiert, während meine Eltern sich scheiden ließen.« Sie lächelte wehmütig. »Jesus, ich hatte mir solche Mühe gegeben, meine Rebellenjahre dadurch zu beschließen, dass ich mit meinem Professor ins Bett ging, und meine spießigen Eltern waren zu sehr damit beschäftigt, ihre eigene Beziehung zu ruinieren, um mich zu beachten …
Scheiße«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Vielleicht sollte ich dir lieber doch nicht zureden, aufs College zu gehen.«
Ich legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie an mich. »Ich habe meine rebellischen Jugendjahre damit verbracht, Autos zu klauen und bei allen, die ich nicht kurzschließen konnte, die Scheiben einzuschlagen. Diese Zeiten sind vorbei, glaube ich.«
Sie presste sich plötzlich an mich. »Ich hab’s
schrecklich gefunden, dass du weg warst, Nick. Es hat mir Angst gemacht. Ich denke, es hat mir gezeigt, wie sehr ich mich an deine Nähe gewöhnt habe. Dabei hatte ich mir nach Aarons Tod vorgenommen, sehr vorsichtig zu sein, um nicht wieder unter dieser Art Schmerz leiden zu müssen.«
Ich hob die Hand und wischte eine Träne von ihrer Wange.
»Ich habe mir Sorgen wegen unserer Beziehung
gemacht, Nick. Zuverlässigkeit gehört nicht gerade zu den Pluspunkten deines Lebenslaufs.«
Ich dachte an die letzten Abschnitte meines
Lebenslaufs zurück. Voriges Jahr um diese Zeit hatte ich in einem Obdachlosenheim in Camden gewohnt, war
abgebrannt gewesen und hatte vor einer Hare-Krishna-Suppenküche anstehen müssen, um kostenloses Essen zu bekommen. Alle meine Freunde waren tot – bis auf
einen, der mich hasste. Außer den Sachen, die ich bei meiner Ankunft in Panama trug, bestand mein gesamter Besitz aus einer Reisetasche in der Gepäckaufbewahrung eines Londoner Bahnhofs. Carries Zweifel waren also nicht ganz
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