Nick Stone - 06 - Feind ohne Namen
aber seine Haltung – der Hintern im Sofa
versunken und die Knie fast unter dem Kinn – wirkte alles andere als bequem.
Er legte die Tasche ab und zog seinen Mantel aus, unter dem eine kastanienbraune Wolljacke über einem braun karierten Hemd zum Vorschein kam. Er wirkte weiter nervös; vielleicht sah dies alles nicht nach einem normalen Vortrag aus, und er machte sich Sorgen, ob wir ihn anschließend würden umlegen müssen.
Nachdem er die Schlösser seiner Tasche geöffnet
hatte, zog er einen kleinen Stapel Farbfotos heraus und legte sie auf den Couchtisch. Er räusperte sich.
»Simon, rasch eine Frage, bevor Sie anfangen?« Ich wollte immer gern wissen, wer mir einen Vortrag hielt.
Ungenügende Informationen sind manchmal schlimmer als überhaupt keine. »Können Sie uns sagen, wo Sie herkommen?«
Suzys Kaugeräusche füllten die sekundenlange Pause, während er überlegte, ob er das sagen durfte.
»Natürlich. Ich bin Arzt und habe früher in Namibia gearbeitet, bevor ich einen Ruf an die School of Hygiene and Tropical Medicine hier in London erhalten habe. Seit den Anschlägen mit Milzbranderregern in den USA bin ich technischer Berater des Außenministeriums für biologische Stoffe Schrägstrich Waffen – ich halte Vorträge vor Botschaftspersonal, solches Zeug.«
Suzy unterbrach ihn lächelnd. »Was haben Sie darüber erfahren, weshalb Sie heute hier sind, Simon?«
»Ich weiß nur, dass ich Sie über die Lungenpest und ihr Potenzial als Waffe informieren soll.«
Sie nickte dankend, und ich signalisierte, dass ich keine weiteren Fragen hatte. Er griff nach den zwölf bis fünfzehn Farbfotos und gab sie mir. »Dies ist ein Fall der Art, die ich in der Vergangenheit zu behandeln versucht habe.«
Ich sah mir die Fotos an und stellte fest, dass sie Teile des aufgetriebenen Körpers eines alten Schwarzen
zeigten – Kopf, Arme, Rumpf, Beine –, die über und über mit eiternden Geschwüren bedeckt waren. Seine
brandigen Finger und Zehen sahen aus, als seien sie in einen Fleischwolf geraten. Ich bemühte mich, das Foto von seinem Gesicht mit den angstvoll geweiteten Augen nur flüchtig anzusehen. Der arme Kerl wurde bei
lebendigem Leib aufgefressen. Ich hörte Suzys
Blisterpackung rascheln und wusste, dass sie ebenfalls versuchte, das Foto des Gesichts zu meiden.
Simons Blick wanderte nervös zwischen uns hin und her, als versuche er zu erkennen, ob dies die
Informationen waren, die wir erwarteten. Als Suzy das letzte Gruselfoto auf den Couchtisch zurücklegte, fasste er das als Signal zum Weitersprechen auf. »Die Pest tritt in zwei Hauptvarianten auf. Die Beulenpest, von der Sie schon gehört haben werden, war im vierzehnten
Jahrhundert für den schwarzen Tod verantwortlich, der allein in Europa über dreißig Millionen Tote gefordert hat. Um die Beulenpest geht’s übrigens auch in dem Kinderreim, den wir alle kennen – ›Ringel, ringel, Mäuschen, wo hast du dein Sträußchen?‹«
Suzy beendete ihn an seiner Stelle. »›Hatschi, hatschi, wir fallen alle um!‹«
Ich stimmte nicht mit ein. Dies war ein weiterer
Kinderreim, den ich nie gelernt hatte. Mein Stiefvater hatte nichts von solchem Unsinn gehalten. Meine Mom musste im Waschsalon arbeiten und dachte nicht daran, ihre Zeit damit zu vergeuden, ihren Kindern solchen Blödsinn beizubringen. Solcher Scheiß half niemandem, einen Job zu bekommen.
Er räusperte sich erneut. »Ja, dreißig Millionen allein in Europa – der größte Bevölkerungsanteil, der je einer einzigen Seuche zum Opfer gefallen ist. Aber die
Beulenpest ist die weniger tödliche der beiden
Varianten.« Sein Blick wanderte erneut zwischen uns hin und her. »Die Variante, über die ich heute spreche, ist die Lungenpest, die so ansteckend ist, dass sie als Waffe der Klasse A eingeordnet wird. Die beiden einzigen anderen Waffen in dieser Klasse sind Pocken und Milzbrand – so schlimm ist diese Krankheit. Wird sie nicht binnen vierundzwanzig Stunden nach der Infektion behandelt, endet sie in hundert Prozent aller Fälle tödlich.«
Suzy beugte sich nach vorn. »Dann stehen die Erreger also unter strikter Kontrolle?«
Er lächelte flüchtig. »Die lassen sich nicht
kontrollieren. Lungenpest entsteht auf natürlichem Weg durch das Bakterium Yersinia pestis , das außer in Australien und der Antarktis auf der ganzen Welt in Nagetieren und ihren Flöhen vorkommt. Bei Menschen entsteht die Krankheit durch Stiche von damit infizierten Flöhen – aber zum Glück
Weitere Kostenlose Bücher