Nie mehr Nacht (German Edition)
warum sich alles in mir sträubte, sobald ich nur daran dachte, eine von Kevins Brücken zu zeichnen. Allen Ernstes hatte ich mir vorgenommen, das Vergangene gegenwärtig und das Tote lebendig werden zu lassen. Eine Zeichnung kann das, hatte ich immer geglaubt, sie kann es, und daran glaubst du, und daran halte fest. Aber jetzt musste ich mir sagen: Nein, unmöglich. Eine Pegasusbrücke gibt es nicht mehr. Man hat sie ersetzt durch eine Imitation, sie ist kein Palimpsest, sondern eine Ruine. Deshalb kann ich nur versuchen, sie so zu sehen, wie sie ist. Und deshalb muss ich besser zeichnen, als ich es selber für möglich halte, und meinen Kummer dazu nutzen, um mir vor Augen zu führen, woher er kommt. Vergiss nicht, wovon Ira bis zum Schluss überzeugt war und woran auch du glaubst: Der Tag ist nur die halbe Wahrheit. Solang ich das im Kopf behalte, fließt es auch in meine Arbeit ein, dachte ich auf dem Sandweg durch das lichtüberströmte Gras. Denn eins dürfte sogar dir inzwischen klar sein, Markus Lee: Fortschritte machst du nur noch beim Zeichnen.
Mit Jesse, der damals vielleicht vier war, hatten Ira und ich in einem Spätsommer einen Ausflug zur Bunthäuser Spitze im Süden von Hamburg gemacht. Es war ein besonderer Ort, nicht nur, weil sich dort der Strom in Norderelbe und Süderelbe teilte, sondern weil es trotz der spürbaren Nähe des Hafens und seiner sich ins Land fressenden Ausläufer ganz still, fast verwunschen an der Bunthäuser Spitze war. Flatterulmen und Flussgeißblatt wuchsen auf dem schmalen Binnendelta zwischen den Elbarmen. Mückenwolken schwebten auf und nieder in der weiten, nach Schlick und verblühten Geestkräutern duftenden Luft. Und an der eigentlichen Landspitze, da stand ein Leuchtturm, nicht höher als ein junger Baum und lange außer Betrieb. Bei seinem Anblick quiekte Jesse vor Entzücken, ehe er von seinem Bobbycar sprang, um als Erster bei der Treppe zu sein, die zu dem rot-weiß geringelten Türmchen hinaufführte.
Es war einer der letzten halbwegs unbeschwerten Ausflüge aufs Land, die meine Schwester noch auf sich nahm, um gemeinsam mit dem Jungen etwas zu erleben. Wenn ich mich nicht irrte, war es außerdem der einzige Ausflug, zu dem Kevin Brennicke mitkam. Sehr lange pflegten er und ich nach dem Nana-Fiasko noch nicht wieder Umgang miteinander, doch in meiner Erinnerung sprachen wir an der Bunthäuser Spitze auch über unsere gemeinsame Liebe zu Zeichnungen sowie über die Möglichkeiten, die ein aufstrebendes Magazin wie St:art einem wenig umtriebigen Künstler wie mir bieten konnte. Der Spaziergang zum Leuchtfeuer Bunthaus – vielleicht der Beginn unserer inzwischen elfjährigen Zusammenarbeit, sehr wahrscheinlich sogar. Vielleicht war dieser Nachmittag an der Elbe sogar etwas wie eine Aussöhnung, das einvernehmliche Schließen eines Kapitels, das unser beider Leben verband, weil es von einer Frau handelte, die kurz meine Freundin gewesen war, dann aber feststellte, dass sie ihn liebte. Von einem Freund erwartete ich nicht viel. Er sollte mir auf Augenhöhe begegnen. Er sollte sein Bestes tun, um mir dasselbe zu ermöglichen. Respekt, ja, und noch mehr. Ich bewunderte Kevin, manchmal wünschte ich mir sogar, wie er zu sein. Doch ich wollte nicht wieder und wieder hören, was ich alles versäumte. »Markus, Alter«, sagte er am Leuchtturm zu mir, »mach was aus deinem Talent. Du musst was unternehmen.«
Aber vielleicht war etwas ganz anderes der Grund dafür, weshalb ich Kevin nie wieder so ins Herz schloss wie zu der Zeit, als Gordy, er und ich Freunde gewesen waren. Ich hatte die Pforte zum Hotelgarten fast erreicht, als ich mich nach langer Zeit wieder mal fragte, wieso Ira ausgerechnet ihn so gemocht hatte. Kevin Brennicke war ein Energiebündel, ein Macher, ein Familienmensch, er war alles, was sie so wenig war wie ich. Ich erinnerte mich, dass in der Nähe des Leuchtturms ein leckgeschlagenes Ruderboot an Land lag und dass Kevin, sobald er sah, wie es hieß, nämlich Plessen oder Klessen , zur Wasserlinie hinunterstürmte und dabei Jesse zurief, er solle mitkommen. »Komm mit, kleiner Mann! Das gucken wir uns an!«, rief er, und Ira sagte in die fragenden Augen ihres Sohnes hinein nur: »Na los. Lauf.«
Sie klang müde und bekümmert, aber auch erleichtert, fast ein bisschen amüsiert von ihrer Erleichterung, so wie oft damals. Und ich sah noch vor mir, wie sie den Gürtel des Trenchcoats, den Kevin ihr überlassen hatte, damit sie Jesse auf seinem Bobbycar
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