Nie mehr Nacht (German Edition)
sind weiter oben und drüben auf der Meerseite. Jesse und Margo wollen hierbleiben, aber Cat, Niels und ich fahren. Willst du mitkommen? Oder hast du noch zu tun? Entschuldige, wenn ich so doof frage, aber wir würden uns wirklich freuen, wirklich.«
Sie sah mich nicht mal an, als sie das sagte, lächelte nur in sich hinein und blickte zu den drei jungen Fensterbauern hinauf, die auf der Mauer, der Leiter und in einem Zimmer standen, das vielleicht dasjenige war, in dem nun mein Tisch und mein Stuhl auf eine Wiedergängerin warteten.
»Und dein Mann?«
»Bleibt hier. Einer muss ja das Geld verdienen.«
»Passt!«, rief Niels aus dem Fenster, als er die beiden Flügel eingehakt hatte. Jesse jubelte. Und Margo rüttelte an der Leiter, bis er sich festklammerte und sie von oben anflehte aufzuhören.
KEINERLEI DEUTLICHE ERINNERUNG an das Telefonat mit Rebecca Lee, meiner Mutter. Ein leergefegter Kopf. Einzig das Gurgeln und Verlöschen meines Handys im Meer sah ich noch vor mir. Keine Irritation, kein Bedauern, nichts von meinem Groll blieb. Ich fühlte mich wie nach einem Platzregen in einem sehr heißen Juli, wenn Ira und ich den ganzen Tag lang draußen spielen gewesen waren.
Die strahlende Helligkeit hielt noch an. Nur ganz allmählich wurde das prächtige Oktoberblau am Himmel blasser, während ich mit Maybritt und den Kindern im Auto saß und nach Bayeux fuhr. Was mir an Zeichenmaterial und Kleidung auf die Schnelle in die Hände gefallen war, hatte ich in den Rucksack gestopft und obendrauf den Roman gepackt. Ich sah aus dem Fenster über die Felder und versuchte mich zu erinnern, wie lange ich den Grünen Heinrich meines Vaters schon mit mir herumschleppte.
Bei Kellers Buch konnte ich mir ausmalen, dass es nur existierte, weil ich darin las. Der grüne Heinrich war nicht wie ich, sondern ich war er. In seinem und meinem Innern erwachten alle Gedanken gleichzeitig, und wenn Gottfried Keller sagte, Heinrich spiele mit dem Rätsel des Lebens wie mit einer goldenen Kugel, dann verstand ich das auf Anhieb und sah die Kugel und ihre Spiegelungen so wirklich vor mir wie an einer Straßenkreuzung eine blinkende Verkehrsampel.
Die Weite verlor sich, schon kamen wir an ersten grellbunten Lagerhallen vorbei. Überall auf der Welt musste es Möbelmärkte geben. Und auch über den Gebrauchtwagenparkplätzen in der Normandie flatterten silberne Reflektorfähnchen. Bayeuxs Gewerbemischgebiete erinnerten mich an Bad Oldesloe.
»Gruselig«, sagte Niels hinten, als hätte er meine Gedanken gelesen und sich deshalb die Stöpsel aus den Ohren genommen. Man hörte blechernes Scharren, E-Gitarrengeschrammel. »Bitte nicht laufen müssen! Lass uns ins Zentrum fahren, ja?«
»Ich versuch’s. Aber vielleicht gibt es ja kein Zentrum.« Maybritt lachte. »Warst du schon mal in Bayeux?«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, nur den Teppich kannte ich, aber auch den bloß von Abbildungen.
»Wir haben ihn gesehen, letztes Jahr mit den Kindern. Er ist wunderschön, man hat das Gefühl, man fliegt durch die Zeit, wenn man ihn ansieht.«
Mietblöcke, Plattenbauten, Reihenhaussiedlungen mit flachen, tristen, überglasten Einkaufszentren. Fliegt durch die Zeit, wenn man ihn ansieht. An einer Bushaltestelle standen ein paar Frauen im Mantel, die wie grau gewordene Fünflinge wirkten. Etwas weiter am Straßenrand vor einem Bretterzaun voller Zirkusplakate eine Gruppe Teenager mit Baggy Pants und Windjacken. Wie viele dieser Jungs, die da gestikulierten und herumblödelten, hatten wohl den Teppich von Bayeux schon gesehen? Wahrscheinlich alle. Wahrscheinlich wurde jeder von ihnen einmal jährlich durchs Tapisseriemuseum gescheucht, um Vergleiche von mittelalterlicher Darstellungskunst mit heutigen Comics und Mangas über sich hinwegbranden zu lassen. Das Gerippe eines Gasometers rührte mich. Auf den Backsteinsockel eines halb verfallenen Wasserturms hatte jemand SARKOPHAGE gesprüht. Auch die Sarkozy-Zeit war nur noch Erinnerung. Geschäfte, in denen niemand zu sehen war, wo nur Neonröhren brannten. Und im hohen Gras zwischen den Ladenbaracken verrottete ein Anhänger mit einer langen schmalen Schaluppe darauf, das einzige Zeichen von Meernähe.
»Da, rechts geht’s ins Zentrum, da, das Schild!«, brüllte mir Niels erleichtert von hinten ins Ohr. »Yes!«
Ich wandte mich um und sah, dass Catinka stumm aus dem Seitenfenster blickte und wie dabei ihre kleinen Hände die Armlehnen der Sitzerhöhung umklammerten. Über meine Zeichnung und
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