Nie mehr Nacht (German Edition)
ziehen konnte, aus der Hand sinken ließ, um sich eine Zigarette anzustecken.
Kevin war in Wahrheit ein großer Junge, ein von allem fasziniertes, auf alles Mögliche neugieriges Kind, für das jedes Problem eine Herausforderung war und die Lösung allein vom richtigen Werkzeug abhing. Plessen oder Klessen : Immer noch hatte er wie früher sein Schweizer Taschenmesser, damit kratzte er unter Jesses staunenden Blicken den ersten und letzten Buchstaben des Bootsnamens vom Bug, nahm einen Kohlestein und verwandelte damit das IESSE in JESSE . Ira lachte – sie konnte sich so freuen –, ihr Sohn tanzte, und ich fragte mich, wann Kevin wohl diese Idee gekommen war.
Durch den Hotelhof klang Gehämmer, das von der Mauer widerhallte, doch war niemand zu sehen, und der zerbeulte Volvo stand noch immer im Carport. Ich ging zwischen den Autos hindurch runter in die Küche, sah, dass auch da alles unverändert war, und nahm mir ein Wasserglas. Ich schenkte es zur Hälfte voll Calvados, füllte es mit kaltem Perrier auf und trank. Ich spülte mein Frühstücksgeschirr ab und merkte dabei, wie der Brand aus Äpfeln und Birnen, es war ein mehr als sechs Jahre alter Napoléon, zu wirken begann. Ich mixte mir noch ein zweites Glas, diesmal mit weniger Wasser, und wartete die Wirkung ab. Ich fühlte mich leicht und aus meinem Kummer entlassen. Ich glaube nicht, dass ich mit dir einen trinken würde, wenn ich dich nicht seit siebenundvierzig Jahren ertragen müsste, dachte ich. Und mit diesem Gedanken nahm ich Catinkas Zeichnung vom Tisch und stieg in den zweiten Stock hinauf. Es kam mir vor, als würde der Weg durch die Dünen und über den Steilhang unvermindert weitergehen bis zu meiner Tür am Ende des Flurs voller im Sonnenlicht schwimmender Bilder.
Auf den Zimmerboden legte ich neben meinen Zeichenblock Cats Star Wars -Karte. Mit dem alten Rapido meines Vaters zeichnete ich eine Linie, aus der Padmé Amidala wurde. Unten auf das Blatt schrieb ich: »Große Jedi-Senatorin Catinka – viel Spaß mit dem Stift! Er ist mächtig wie ein Laserschwert.« Dann zog ich mir eine alte Jeans an – ihr letzter Auftritt –, schlüpfte in den Anorak und wandte mich zur Tür, um in der Küche die Zeichnung und den Rapidographen auf den Platz der Kleinen zu legen. Aber ich drehte mich noch mal um, hörte im Hof das Hämmern und sah mein leeres Bett. Ich spürte den Körper der Frau, die dort lag und atmete, und schloss die Augen. Ich spürte, wie Ira leicht und ruhig atmete, und so ging ich und ließ die Tür offen.
Carlo kam mir entgegengetrabt, als ich im Hof um die Ecke bog. Sobald er mich sah, freute er sich, drängte sich an mein Bein und presste mir Stirn und Schnauze in die flache Hand, damit ich ihn klopfte und kraulte.
»Na mein Freund, immer noch da?«
»Komm und sieh dir an, wie weit wir schon sind!«, rief Maybritt. In Jogginghose, dickem Pullover und mit Tuch im Haar stand sie in einem Sonnenviereck zwischen Mauer und Hauswand, rauchte eine von ihren Selbstgedrehten und winkte mich mit fächelnden Handbewegungen zu sich.
»Guck«, lachte sie, als ich neben ihr stand, und zeigte mit zwei Fingern und der Zigarette nach oben, weit nach oben, die Mauer, die Hauswand hinauf bis zum zweiten Stock. »Fast fertig. Wer hätte das gedacht?« Sie strahlte, und sie legte mir den Arm um die Schultern. »Ich freue mich so!«
Auf der Mauer standen Margo und die Aluleiter, die sie festhielt und die an der fleckig gelben Hauswand lehnte. Oben auf der Leiter, in schwindelerregender Höhe, sah ich in einem verwaschen blauen Monteursanzug, der ihm viel zu groß war, Jesse, die blonde Mähne zum Pferdeschwanz gebunden und in der Hand einen Zimmermannshammer. In dem noch scheibenlosen Fenster, auf das er eindrosch, erschien Niels. Er stand in einem leeren Zimmer, erklärte mir seine Mutter, er fixierte den Rahmen, damit Jesse ihn im Mauerwerk verkantete. Inzwischen fast Routine, jeder Handgriff der drei saß, lachte sie, richtig nutzlos kam man sich vor! Vier Fenster hatten sie fertig, und sobald auch bei dem letzten die Flügel eingesetzt waren, wollten sie nur noch auf Ove warten, der mit Catinka auf Beobachtungsstreifzug war, und dann losfahren, nach Bayeux zum Einkaufen, Eisessen, Muskelkaterbekommen.
»Alles klar. Flügel!«, hörte ich Jesse rufen und sah im nächsten Moment Niels einen neuen, leuchtend weißen Fensterflügel durch den Rahmen heben und in die Angeln passen.
»Ist das ein Möwenzimmer?«, fragte ich.
»Nein, die
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