Nie Wirst Du Entkommen
sollen. Warum hat sie so lange gewartet?«
Aidan rief sich die Assistentin in Erinnerung. Sie hatte Zugang zu allen Patientenakten. Sie konnte, wenn sie wollte, nicht nur ihre Vorgeschichte in Erfahrung bringen, sondern auch ihre Adressen und Telefonnummern. Sie war da gewesen, als der Kurier die CD gebracht hatte, also wusste sie auch von Bacons Filmen. Und sie hatte ihnen nicht in die Augen sehen können, als Murphy und er vor ein paar Stunden in der Praxis aufgetaucht waren.
Aidan breitete die Papiere auf seinem Tisch aus und überflog sie. »Denise Masterson. Ich habe sie schon überprüft. Vorstrafen hat sie nicht.« Rasch las er das Wenige, das er über sie gefunden hatte. »Sie arbeitet nun seit fünf Jahren für die Praxis. Davor war sie auf dem College. Keine nennenswerten Schulden. Sie fährt ein zehn Jahre altes Auto und teilt sich die Wohnung mit einer Mitbewohnerin. Mehr weiß ich nicht.« Er blies die Backen auf. »Ich muss hier in ungefähr einer Stunde losfahren, um mich mit Riveras ehemaliger Wohnungsgenossin zu treffen. Danach spreche ich mit Denise.«
»Du könntest Tess fragen.«
»Was fragen?«
Tess sah beide Männer zu ihr herumfahren und sie überrascht anstarren. Von hinten sahen sie beinahe vollkommen gleich aus, breite Rücken in weißen Hemden und schwarzen Hosen. Dieselben dunklen Haare, dieselben Schulterholster. Aber Tess war sich sicher, dass sie Aidan in einem ganzen Raum voller ähnlicher Männer augenblicklich entdeckt hätte. Sie hatte in der Nacht zuvor diesen Rücken gestreichelt. Aber nun musste sie ihm – ihnen beiden – schlechte Nachrichten überbringen.
Aidans Augen verengten sich. »Was ist los?«
»Setzt euch. Beide.«
»Tess …«
Sie hielt die Hand hoch. »Bitte.« Aidan setzte sich auf den Stuhl, Abe auf den Tisch. Ihre Mienen waren besorgt. »Es geht um Rachel.« Beide sprangen auf die Füße, aus beiden Gesichtern wich das Blut. Mit einem leisen Seufzer sah sie sie an. »Sie ist nicht schlimm verletzt.«
»Wo ist sie?« Aidans Stimme war drohend. »Tess, spiel keine Spielchen mit uns.«
»Seh ich aus, als wollte ich spielen?«, fragte sie scharf. »Setzt euch gefälligst wieder hin. Das ist einer der Gründe, warum sie nicht euch angerufen hat.«
Langsam gehorchten die beiden Männer. »Sie wartet draußen mit Vito. Sie hat Kristen und ihre andere Schwägerin angerufen, aber da war immer nur die Mailbox dran. Sie wollte so, wie sie aussah, nicht zu euch oder euren Eltern, und ich habe ihr gestern, als ich ihr bei den Hausaufgaben geholfen habe, meine Nummer gegeben. Sie hat mich gebeten, zu dir nach Hause zu kommen, damit sie sich da einigermaßen wieder herrichten konnte, bevor sie euch trifft.«
Aidan schluckte. »Das hast du ihr aber nicht erlaubt, nicht wahr? Wir brauchen … Beweise.«
»Ich habe sie in die Notfallambulanz gebracht. Aber
nicht
«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie die Brüder sich versteiften, »weil es so schlimm war. Eine Wunde musste genäht werden, das ist alles. Ich habe die Polizei angerufen, und jemand kam und hat einen Bericht aufgenommen. Dann habe ich sie direkt hierhergebracht.« Sie hockte sich neben Aidan und nahm seine Hand. »Man hat sie zusammengeschlagen und ihr die Kleider zerrissen. Es sieht weit schlimmer aus, als es ist. Sonst hat man sie nicht belästigt, verstehst du, was ich meine?«
Steif nickte er. »Wer war es?«
»Zwei Jungen aus der Schule. Hört zu, sie ist vollkommen fertig. Macht es nicht noch schlimmer. Und mach vor allem sofort ein anderes Gesicht.« Sie schaute zu Abe auf. »Und du auch. Ihr zwei seht aus, als wolltet ihr jemanden umbringen. Sie hat Angst, dass ihr vollkommen ausrastet, Ärger bekommt und eure Jobs verliert.«
Abe sog die Luft ein und zwang sich zu einer entspannteren Miene. »Hol sie rein.«
Tess erkannte, dass sie mehr nicht erreichen würde, und eilte in den Korridor, wo Rachel mit Vito wartete. Das Mädchen hatte Tess’ neuen Mantel um die Schultern und den Kragen bis über die Ohren hochgeschlagen. »Sie sind so gut vorbereitet, wie es geht, Mädchen«, sagte sie. »Komm, bringen wir es hinter uns.«
»Sie werden durchdrehen«, flüsterte Rachel mit zitternden Lippen.
»Ja, natürlich. Und dazu haben sie ja auch ein Recht. Aber sie sind erwachsene Männer mit einer guten Portion gesundem Menschenverstand. Sie werden keine Dummheit begehen.« Sie nahm Rachel am Arm und führte sie in das Großraumbüro, wo die beiden warteten. Einen Blick auf ihr Gesicht, und beide
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