Nie Wirst Du Entkommen
kaum hörbar.
Tess hob den Kopf und blinzelte erleichtert in die Dunkelheit. Ihr Vater war bei Bewusstsein. Am Leben. Behutsam rollte sie sich auf die Seite und sah ihn an. Seine Hände und Füße waren ebenfalls gefesselt, aber aus irgendeinem Grund hatte Amy ihn nicht geknebelt.
Amy.
Das war so unfassbar. Bis sie begann, Verbindungen herzustellen.
Der Kriechkeller unter dem Haus.
Sie war damals so entsetzt und fassungslos gewesen, und Amy so besorgt. Genau wie sie es nach dem Knasti mit der Kette gewesen war.
Sie hat mir Suppe vorbeigebracht.
Ekelhafte Suppe. Tess hatte immer gedacht, Amy sei nur eine miese Köchin gewesen. Doch jetzt begann sie zu verstehen, warum sie sechs Wochen lang schwach gewesen und sich ständig erbrochen hatte.
Sie hat mich vergiftet.
Was für ein Miststück. Aber wieso?
Weil sie krank ist, Tess.
Und Tess hatte längst erfahren, dass es manchmal der einzige Grund war, den ein Mensch brauchte. Aber Amys Zorn hatte sich verändert. Vor Cynthia Adams war ihre aufgestaute Wut nie tödlich gewesen. Sondern nur … gemein. Was war geschehen?
Zögernd berührte sie mit dem Knie das ihres Vaters.
»Tess«, flüsterte er. »Du lebst.«
Aber wie lange noch. Sie stieß ihn erneut an, versuchte Trost zu spenden und gleichzeitig Trost zu bekommen.
»Ich habe ein Messer in meiner Tasche«, murmelte er. »Mein Schnitzmesser. Kommst du dran?«
Sein Schnitzmesser. Er hatte ihr, als sie klein war, mit diesem Messer, das in seiner Zimmermannshose steckte, immer irgendetwas geschnitzt. Sie sah das Messer vor ihrem inneren Auge. Wenn sie es jetzt nur noch mit den gefesselten Händen erreichen könnte.
Freitag, 17. März, 19.30 Uhr
Joanna ging mit federnden Schritten auf ihr Wohnhaus zu. Ihr Abstecher nach Lexington war ausgesprochen erhellend gewesen. Dr. Chin hatte ihr Informationen gegeben, dank deren sich ihr Artikel in ein Stück seriösen Journalismus verwandeln würde.
Sie hatte zwar kein Exklusiv-Interview von Ciccotelli bekommen, dafür aber etwas über ihre beste Freundin, das noch viel besser sein würde. Sie konnte es kaum erwarten, Keith davon zu erzählen.
Sie hatte es geschafft. Endlich geschafft. Eine eigene Verfasserzeile. Und nicht nur über einem albernen Artikel über Dr. Jon Carters sexuelle Vorlieben, der in der Klatschspalte erscheinen würde. Dies war knallharter Journalismus. Seite eins. Über dem Falz.
Endlich.
Und in diesem Fall würde Cyrus Bremin ihr nichts abnehmen. Sie hatte das Versprechen des Chefredakteurs. Andererseits hatte der Mann ihr schon einmal etwas versprochen und es dann nicht gehalten. Nun, sie würden sehen. Sie bog mit einem Grinsen um die letzte Ecke.
Das Grinsen schwand, als sie den Eingang sah. Zum zweiten Mal in dieser Woche stand ein Krankenwagen vor der Tür. Sie legte die letzten Meter im Laufschritt zurück. Während sie beim ersten Mal aufgeregt gewesen war, weil sie über den Selbstmord von Cynthia Adams berichtete, empfand sie jetzt nur noch Furcht.
Dann hatte sie einen Polizisten erreicht. »Entschuldigen Sie, ich wohne hier. Was ist passiert?«
Er sah sie mit verengten Augen an. »Wie heißen Sie?«
»Joanna Carmichael.«
Seine Augen wurden ausdruckslos. »Wir haben Sie gesucht. Bitte kommen Sie mit.«
Nein.
Die Furcht wuchs, als er sie zum Fahrstuhl führte und sie zu ihrer Etage hinauffuhren.
Nein.
Die Tür zu ihrer Wohnung stand offen. Im Inneren sah sie Leute. Nein, Cops.
Keith.
Ein paar Schritte vor der Tür wurde sie von einem großen, dunklen Mann und einer kleinen, blonden Frau aufgehalten. Der Mann legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Miss Carmichael?« Wie betäubt nickte sie.
»Ich bin Detective Mitchell, und das ist Detective Reagan«, sagte die Frau. »Können Sie uns sagen, wo Sie vor etwa einer Stunde waren?«
Ihr Herzschlag verlangsamte sich. Der große Dunkle war der Bruder von Ciccotellis Lover. »Beim
Bulletin.
Gespräch mit dem Chefredakteur. Warum?«
Die Frau sah ihr direkt in die Augen. »Wir haben leider schlechte Nachrichten.«
Die Stimme der Frau wurde übertönt vom Quietschen der Räder, mit denen eine Bahre aus ihrer Wohnung gerollt wurde. Darauf ein Leichensack. »Keith?« Sie hastete hinter der Bahre her und verspürte Panik in jeder Faser ihres Körpers. Die Stimme, die sie schreien hörte, war ihre eigene.
»Keith!«
Freitag, 17. März, 19.30 Uhr
D ie Blutung hatte beinahe von selbst aufgehört, und es pochte auch nicht mehr so schlimm wie kurz nach dem Schuss. Trotzdem musste die
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