Nie Wirst Du Entkommen
Briefumschlags auf und schüttete zwei Mikrokassetten auf den Tisch. »Hoppla.«
»Die passen in ein Diktiergerät«, sagte Aidan. Seine Schwägerin ging niemals ohne den kleinen Rekorder aus dem Haus. »Kristen plappert den ganzen Tag in ein solches Ding. In Patricks Büro steht bestimmt auch eins, das wir benutzen können.«
Murphy sammelte die Sachen aus dem Kasten ein. »Burkhardt wird uns genauso weiterhelfen können.«
»Du willst bloß wissen, ob er schon etwas über die Stimmen herausgefunden hat.«
Murphys Lächeln war flüchtig. »Der Gedanke ist mir durchaus in den Sinn gekommen. Komm, besorgen wir uns was zu essen und gehen dann auf eine Hörprobe zu Burkhardt.«
Dienstag, 14. März, 12.35 Uhr
»Hattest du vor, mich zu versetzen?«
Tess schaute von der Akte auf und blinzelte, um die Gestalt in der Tür zu ihrem Büro zu erkennen, dann sah sie auf die Wanduhr. Die Uhr war eine Antiquität, genau wie Harrison Ernst, mit dem sie sich die Praxis teilte. Sie aßen jeden Dienstag zusammen Lunch.
»Harrison. Entschuldigung. Ich habe die Zeit vergessen. Macht es dir was aus, wenn wir heute nicht essen gehen?«
Harrison nahm ihren Mantel und ihre Tasche von der Garderobe. »Es macht mir in der Tat etwas aus.«
»Ich muss unbedingt noch diese Akten durchsehen.« Schon seit Stunden versuchte sie herauszufinden, welche von ihren Patienten am ehesten manipulierbar waren. Nun schob sie die Mappe, in der sie gerade gelesen hatte, mit einem Hauch Gereiztheit von sich.
»Du brauchst eine Pause, Tess. Deine Augen sind schon ganz rot. Komm, mach einem alten Mann eine Freude.« Er nahm ihre Hand und zog sie auf die Füße. »Na, siehst du. Das war doch gar nicht so schwer.«
»Harrison, bitte.«
Er warf einen raschen Blick auf ihren Tisch. »Du versuchst herauszufinden, wer der Nächste sein kann, richtig?«
Sein nachsichtiger Ton gab ihr Kraft. »Ja.«
»Hättest du erwartet, dass die beiden, die gestorben sind, so empfänglich sind?«
Tess schloss die Augen und hielt seine knotige Hand fest. »Nicht mehr, als bei der Hälfte meiner anderen Patienten auch. Ich kann einfach keinen gemeinsamen Nenner zwischen ihnen finden, außer, dass beide durch ein Trauma suizidgefährdet waren.«
»Wie die Hälfte deiner anderen Patienten auch. Darf ich dir eine andere Vorgehensweise vorschlagen?«
Irgendwie hatte er ihr ihren Mantel übergelegt und sie zum Fahrstuhl geführt. Es waren nur drei Etagen, aber Harrison konnte die Treppe nicht mehr bewältigen. Drei Stockwerke schaffte sie gerade noch. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Kann ich dich davon abhalten?«
Er lachte leise, als er den Knopf zur Garage drückte. »Eher nicht. Tess, hör auf, Gedanken lesen zu wollen. Benimm dich wie eine Psychiaterin.«
Die Türen glitten zu und ihr Puls beschleunigte sich.
Zwei Stockwerke. Nur noch eins.
Die Türen gingen wieder auf, und sie holte tief Luft, obwohl es nach altem Öl und Benzin roch. »Was meinst du damit?«
»Wenn du nicht verdächtig gewesen wärst und diese beiden Detectives dich nur um Rat gefragt hätten, was hättest du getan?«
Er half ihr in den Wagen. »Ich hätte wahrscheinlich ein Profil erstellt«, sagte sie, als er sich hinter das Steuer setzte.
»Dann tu das.« Harrison lächelte leicht und fuhr aus der Parklücke. »Und ich helfe dir dabei. Oh, übrigens werden draußen wohl jede Menge Reporter warten.«
»Tut mir leid.«
Er sah sie vorwurfsvoll an. »Hör auf, Tess. Schau mal in die Tüte.«
Tess öffnete eine braune Papiertüte, die zwischen ihren Sitzen lag, und musste lachen. Darin befand sich ein schwarzer Filzhut und eine riesige Brille, an der Pappnase und Schnurrbart befestigt war. »Meine Verkleidung?«
Seine Lippen zuckten. »Ich dachte, du wolltest inkognito gehen.«
»Hast du auch noch einen falschen Pass und zehntausend Dollar in bar mitgebracht?«
»Wir wollen nicht nach Mexiko, Tess. Nur zum Essen.«
Ihr Herz krampfte sich zusammen. »Harrison, habe ich dir je gesagt, dass du ein lieber Mensch bist?«
Er tätschelte ihren Oberschenkel. »Nein, aber das habe ich mir schon gedacht. Und Eleanor hätte nicht gewollt, dass du herumsitzt und dich selbst zerfleischst.«
Tess dachte an die Frau, die ihr so vieles beigebracht hatte. Eleanor Brigham war ihre Mentorin und Harrisons beste Freundin gewesen. Sie und Harrison hatten die Praxis vor beinahe zwanzig Jahren gegründet. Tess hatte gewusst, dass sie als Nachfolgerin auserwählt gewesen war, aber nie hätte sie gedacht,
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