Nie Wirst Du Entkommen
dass sie so plötzlich und so bald den Posten übernehmen würde. Vor drei Jahren war Eleanor im Schlaf an einem Schlaganfall gestorben; damit hatte niemand gerechnet. »Sie fehlt mir. Und ich bin froh, dass du da bist.«
Er lenkte auf die Straße, ohne den Reportern, die sie aufhalten wollten, einen Blick zu gönnen. »In letzter Zeit habe ich die Medien wirklich zu verabscheuen gelernt.«
»Ja, ich weiß, was du meinst. Also – wer ist dieses Ungeheuer, Harrison?«
»Sag du’s mir. Du kennst mehr Fakten als ich.«
»Aber nicht alle. Detective Reagan dürfte mir eine ganze Menge verschweigen.« Sie lehnte sich zurück und biss sich auf die Lippe. »Aber ich weiß im Grunde genug, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Es muss sich um eine Person handeln, die Kontrolle ausüben will und einen Hang zur Dramatik hat. Sie weiß, was Verletzlichkeit ist, und hat die Fähigkeit, sie rücksichtslos auszunutzen. Außerdem hat diese Person Zugang zu den Polizeiberichten und meiner Patientenkartei.«
»Männlich oder weiblich, Tess?«
»Keine Ahnung. Die Person, die mich inzwischen zweimal angerufen hat, ist definitiv weiblich. Die Person, die meine Stimme imitiert hat, ist definitiv weiblich.«
Sein kurzer Blick war schockiert. »Sie hat deine Stimme imitiert?«
»Auf Cynthia Adams’ Anrufbeantworter. Ich war heute morgen für eine Stimmprobe bei der Polizei, weil ich gehofft habe, das würde mich als Anruferin ausschließen, aber leider ist es nicht ganz so einfach. Jedenfalls analysieren sie noch.«
»Diese Person muss das Ganze also schon seit einiger Zeit geplant haben.«
»So sieht’s aus.«
»Aber woher kennt sie die Namen deiner Patienten?«
»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Was Winslow und Adams gemein hatten, war die Tatsache, dass sie beide im Krankenhaus lagen, nachdem sie versucht hatten, sich umzubringen. Aber auch das trifft auf die Hälfte meiner Patienten zu.«
»Aber das Krankenhaus hat sie dann natürlich in der Kartei.«
»Ja. Theoretisch sind die Berichte nicht einfach einzusehen, genau wie unsere auch nicht. Aber …« Sie zuckte die Achseln.
»Hast du in deinen Aufzeichnungen nachgesehen?«, fragte er vorsichtig.
»Ja, natürlich habe ich auch daran gedacht, was du andeutest. Aber es fehlt nichts, und meine Computerdateien hat niemand außer Denise und ich eingesehen.«
Er zog die Brauen zusammen. »Sie ist seit fünf Jahren bei uns. Seit du in die Praxis eingestiegen bist.«
Tess seufzte. Sie war nie wirklich glücklich mit Denise gewesen, aber Harrison mochte sie sehr. »Ich weiß. Im Übrigen hat diese Person auch Zugriff auf die Polizeiakten. Sie wusste von Cynthias Schwester und hatte Abzüge von den Polizeifotos. Genau wie in Winslows Fall. Ich habe nichts davon in meinen Unterlagen. Und dann die Lilien in Cynthias Wohnung. Ich wusste nichts von der Bedeutung der Lilien.«
»Also hat jemand vielleicht einen Cop auf seiner Seite.«
»Oder es ist ein Cop.«
Harrison holte tief Luft, als er den Wagen auf den Parkplatz des Restaurants lenkte. »Mit Rache als Motiv?«
»Detective Reagan scheint das für möglich zu halten.«
Er parkte ein. »Wir haben es also mit einem gut organisierten, theatralischen Psychopathen zu tun.«
»Der sich mit Medikamenten auskennt.«
»Ah. Das ist allerdings interessant.«
Sie dachte an die Tragödie der beiden Todesfälle. Selbstmord, obwohl beide so sehr gekämpft hatten, um sich aus dem Sumpf zu ziehen. In der Tat lag eine Grausamkeit, die über normale Gewaltbereitschaft hinausging – sofern Gewalt als normal bezeichnet werden konnte. »Und der sich nicht gerne die Hände schmutzig macht.«
»Und der bei dir einen Ständer kriegt.«
Tess riss entsetzt die Augen auf. »Harrison!« Ihr Partner war gewöhnlich nicht vulgär. Aber als er nichts sagte, zuckte sie die Achseln. »Wahrscheinlich hast du recht!«
»Das hört sich für mich an wie der Anfang eines fundierten Täterprofils, Doktor«, sagte er mit einem Lächeln. »Und jetzt habe ich Hunger wie ein Wolf.«
Etwas Gutes hatte der Chicagoer Verkehr am Mittag ja, musste Joanna Carmichael zugeben, als sie die Abdeckung von ihrer Kameralinse nahm. Niemand konnte so schnell fahren, dass er einem Motorradfahrer entkam. Die Füße links und rechts neben der Maschine auf den Boden gestellt, schoss sie zehn gute Fotos von Dr. Ciccotelli und ihrer Begleitung.
Nachdem sie Ciccotelli den ganzen Tag gefolgt war, hatte sie kaum noch Platz auf dem Chip. Ihr
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