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Nie Wirst Du Entkommen

Nie Wirst Du Entkommen

Titel: Nie Wirst Du Entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Rose
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die von Engegefühl in der Brust bis Schlaflosigkeit reichten. Der darunterliegende Grund dafür war, dass sie nicht mit dem Selbstmord ihres dreißigjährigen Sohns zurechtkam. Sie hatte getan, was man gewöhnlich tat, hatte ihn begraben und betrauert. Aber der Zorn reichte so tief.
    Irgendwie hatten die öffentlichen Todesfälle von Cynthia Adams und Avery Winslow es geschafft, diesen Zorn aufzubrechen, und endlich, endlich konnte Mrs. Lister zugeben, wie wütend sie war. Wie sehr sie ihn dafür hasste, dass er sie auf diese Art verlassen hatte. Wie sehr sie ihn geliebt und wie sehr sie gehofft hatte, er möge zu ihr nach Hause kommen. Sie hätte ihn beschützen müssen, aber sie hatte nichts gewusst. Nicht einmal etwas geahnt. Und nun war es zu spät. Sie würde keine zweite Chance mehr bekommen.
    Das war nicht ungewöhnlich bei Hinterbliebenen, aber es trieb Tess stets die Tränen in die Augen. Sie drückte Mrs. Lister ein paar Taschentücher in die Hand und ließ sie weinen. Anschließend würde die Frau wie ausgehöhlt sein, wenn auch nicht notwendigerweise bereit, den nächsten Schritt zu unternehmen. Jeder Patient war anders, wusste Tess, jeder hatte unterschiedliche Bedürfnisse.
    Während Tess ruhig wartete, brummte der Pager in der Tasche ihrer Hose. Es war Denise. Niemand anderes hatte die Nummer. Mit dem Pager konnte Denise sie auf diskrete Art kontaktieren, während Tess sich in einer Sitzung befand.
Nicht jetzt, Denise.
Dreißig Sekunden später vibrierte das Gerät erneut. Tess stand auf und trat ans Fenster, wobei sie den Apparat heimlich aus der Tasche zog.
    Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Mehrere »911«-Reihen waren auf dem Display zu lesen. Ein einziges »911« bedeutete einen Notfall – aber gleich mehrere? Mit zitternden Händen ließ sie den Pager wieder in die Tasche gleiten und wandte sich ihrer Patientin zu. »Mrs. Lister, ich gehe einen Moment hinaus, damit Sie Zeit für sich haben«, sagte sie mit erzwungen ruhiger Stimme.
    Sie verließ das Zimmer, und ihr stolperndes Herz rutschte ihr in die Magengrube. Denise saß mit leichenblassem Gesicht an ihrem Tisch. »Verzeihen Sie, aber da ist schon wieder ein Anruf. Auf Leitung zwei. Sie will nur mit Ihnen reden und behauptet, Sie würden es auch wollen.«
    Tess nahm den Hörer, straffte die Schultern und nickte Denise kurz zu. Denise drückte auf die Taste für Leitung zwei, und Tess hörte augenblicklich das statische Knistern einer Handyverbindung plus diverser Hintergrundgeräusche. Eine Hupe plärrte, eine zweite antwortete. Plötzlich wünschte sie sich verzweifelt, sie hätte Reagan erlaubt, auch dieses Telefon anzuzapfen, obwohl sie genau wusste, dass sie das niemals hätte tun können. »Dr. Ciccotelli am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«
    »Dr. Ciccotelli, ich bin eine Nachbarin eines Ihrer Patienten.«
    Spar dir den Schrott, Lady,
lag Tess auf der Zunge, aber sie unterdückte die Bemerkung. Sie wollte nicht, dass die Frau aus Zorn auflegte. »Um welchen Patienten handelt es sich, Ma’am?«
    »Malcolm Seward.«
    Tess holte tief Luft und bedeutete Denise, ihr einen Stift zu geben. Sie schrieb den Namen auf einen Block, und Denise gab ihn in den Computer ein.
    Das waren verdammt schlechte Neuigkeiten. »Was ist denn das Problem?«
    »Mr. Seward hat einen furchtbaren Streit mit seiner Frau«, sagte die Stimme am Telefon reserviert. »Ich glaube, er hat … ja, er hat sie zu Boden geschlagen. Und er schreit, er will sie umbringen.« Es klang, als würde sie sich zum Wetter äußern. »Bitte kümmern Sie sich darum, Doktor.«
    Die Frau legte auf. Tess sah zur Tür, hinter der sich noch Mrs. Lister befand. »Denise, rufen Sie Harrison an, er soll sich um Mrs. Lister kümmern.«
    »Wie denn?«
    »Teufel, was weiß ich!« Tess’ Hände zitterten. »Er soll sie trösten oder sonst was. Ihm wird schon etwas einfallen. Machen Sie ihr für morgen einen Termin. Und geben Sie mir Sewards Adresse.« Sie packte den Notizblock, auf dem Denise zwei Adressen notiert hatte. »Was soll das denn?«
    »Hier stehen zwei Adressen«, sagte sie hilflos. »Eine in der Stadt und eine weiter draußen. Wo, denken Sie, ist er jetzt?«
    »Ich habe Verkehr im Hintergrund gehört«, sagte Tess. »In der Stadt.« Nur drei Blocks von hier. »Und rufen Sie die 911 an. Sie sollen sich beeilen.«
    Sie stürmte aus der Praxis, die Treppe hinab, und betete, dass die Reporter verschwunden waren, obwohl es im Endeffekt vollkommen egal war.
    Malcolm Seward

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