Niedersachsen Mafia
nehmen?«, fragte der Mann.
Sie blieb stehen. »Wer sind Sie?«
Er verbeugte sich leicht. »Oh, Verzeihung.« Seine Stimme klang ein
wenig spöttisch. »Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns einander bekannt zu
machen. Wer bin ich?« Dabei blitzten seine dunkelbraunen Augen auf. »Ist das
nicht eine Frage, die wir uns ein ganzes Leben lang stellen?« Er fuhr sich mit
der Hand durch das kurze, widerborstige Haar. »Das ist grau geworden. Aber eine
Antwort habe ich noch nicht gefunden.« Er hielt für einen Moment inne. »Ach ja.
Ich bin unhöflich zu Ihnen. Sie können mich schließlich nicht ›den Suchenden‹
nennen. Sagen wir – ich bin Georg. Schließlich sind wir uns am Georgsplatz
begegnet.«
»Und weiter?«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Belassen wir es dabei. Und mit
wem habe ich das Vergnügen?«
Frauke war versucht, ihm die Antwort zu verweigern, umgehend das
Haus zu verlassen und sich ein Taxi zu rufen. Zuvor müsste sie aber
herausfinden, wo sie sich befand. Und wo sollte sie hin? Im Hotel hatte sie
ausgecheckt. Ihre Sachen lagen im Auto beim Landeskriminalamt. Entweder würde
sie sich ein anderes Hotel suchen müssen, oder sie würde in ihre unfertige
Wohnung einziehen, die der Organisation aber bekannt war. Ein Kälteschauer
jagte ihr über den Rücken. Nein! Sie spürte keine Angst. Es war noch die Kühle
der rasanten Fahrt auf dem Motorrad.
Georg hatte ihr Zittern mitbekommen. »Nehmen Sie Platz«, sagte er
mit Bestimmtheit. »Ich werde einen Tee zubereiten und mich umziehen.« Er
duldete keinen Widerspruch, drehte sich um und verließ den Raum. Kurz darauf
kehrte er mit einer flauschigen Decke aus Kaschmirwolle zurück und reichte sie
Frauke. »Hüllen Sie sich damit ein.« Dann verschwand er wieder.
Frauke stand unschlüssig im Raum. Schließlich setzte sie sich in
einen der Sessel und schlang die Decke um ihren Leib. Die Wolle war angenehm
weich und schmiegte sich an ihren Körper. Sie versuchte, auf Distanz die Titel
auf den Rücken der Ledereinbände zu lesen. Es waren zum großen Teil
fremdsprachige Titel. Sie entdeckte Englisch, Französisch, aber auch eine ganze
Reihe lateinischer Beschriftungen. Oder war es Italienisch? Sie schalt sich
eine Närrin. Überall vermutete sie Italien. Zeigte der gegen sie gerichtete
Psychoterror Wirkung?
Ihr Gastgeber ließ sich eine Viertelstunde Zeit, bis er
zurückkehrte. Dabei balancierte er ein silbernes Tablett mit feinen Ziselierungen
am Rand. Behutsam setzte er es auf dem runden Tisch neben Fraukes Sessel ab,
entzündete mit einem langen Streichholz das Stövchen und schenkte aus der
bauchigen Kanne einen goldenen Tee in die Tasse aus feinem Knochenporzellan mit
den rotbraunen Jagdmotiven ein. Dann füllte er sein Trinkgefäß und nahm im
Nachbarsessel Platz.
»Bitte.« Er zeigte auf das Zuckerdöschen, und, als Frauke zögerte,
füllte er einen der braunen Würfel in seine Tasse. Anschließend nahm er den
Milchtopf und ließ den Strahl der Sahne über den Rücken des Teelöffels in das
Getränk laufen. Sofort bildeten sich weiße Wölkchen.
»Darf ich?«, fragte er, wartete die Antwort nicht ab und richtete
auch Fraukes Tee her.
Georg griff seine Tasse, hob sie unter die Nase, schloss die Augen
und ließ das Aroma des Tees auf sich wirken, bevor er einen Schluck nahm. »Es
ist das Geheimnis des Teegenusses«, erklärte er, »dass Tee und Zucker nicht
umgerührt werden.«
»Sind Sie Ostfriese?«, fragte Frauke unvermittelt.
Er lachte hell auf. »Nein. Aber ich habe lange in England gelebt und
mir die englische Teekultur zu eigen gemacht.«
Frauke nickte in Richtung der Bücher. »Sie waren oft im Ausland?«
»Ja«, antwortete Georg. »Ich hatte das Glück, schon viele schöne
Flecken der Erde kennenzulernen.«
»Wo denn?«
»Ach, das würde zu weit führen. England. Ein paar Jahre habe ich in
Amerika zugebracht.«
»Und Italien?«, fragte Frauke.
Georg sah sie eine Weile an, als würde er sie mustern wollen. »Dem
Land verdanken wir sehr viel für die europäische Kultur.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Sie meine auch nicht.«
Frauke ließ sich Zeit. Dabei betrachtete sie ihn. Georg hatte
markant geschnittene Gesichtszüge, männlich, aber nicht zu herb. Die schlanken,
gepflegten Hände waren Frauke schon früher aufgefallen. Er trug eine helle Hose
aus grober Seide, ein dazu passendes cremefarbenes Hemd, aus dessen Kragen ein
Seidentuch ragte. Der Raum und er atmeten Noblesse, stellte Frauke für
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