Niederschlag - ein Wyatt-Roman
gekleidet, er trug kurzes Haar; Letzteres wohl weniger eine Reverenz vor modischen Trends als das Bemühen, Kopfläuse in den Griff zu bekommen. Er stopfte sich gerade einen Hamburger in den Mund, als ein Autofahrer ihm ausweichen wollte, scharf bremste und der Kühler des Wagens sich unter dem abrupten Stillstand der Reifen senkte, der Wagen zur Seite ausbrach, endlich zum Stehen kam und dabei mit seiner StoÃstange die Knie des Jungen leicht touchierte.
Alles hielt den Atem an. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Mit dem Reaktionsvermögen des Jungen war es nicht weit her. Dann plötzlich fuhr ihm der Schreck in alle Glieder, die Hand zuckte unwillkürlich, der Hamburger flog durch die Luft. Die Miene des Jungen war eine Mischung aus Trotz und Verlegenheit. Er kicherte. Wyatt wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Damit sagte der Junge: Nicht erwischt â wär mir auch egal gewesen, wenn du mich überfahren hättest. Der Tod â oder Essen und ein warmes Bett im Krankenhaus â wär allemal besser als das Leben, das ich habe. Wyatt konnte sich in den Jungen hineinversetzen. Wo der zu Hause war, hagelte es Schläge gegen den Kopf oder StöÃe, die einen quer durch den Raum trieben, setzte man eine Gürtelschnalle ein, um den anderen ohne Grund blutig zu schlagen. Es war etwas Krankes, das Wyatt wiedererkannte.
Kummer machte sich breit in ihm, herb und quälend. In ihrer Kindheit hatten Wyatt und sein Bruder diverse »Onkels« gehabt. Einen nach dem anderen. Diese Männer waren nie lange geblieben. Sie wollten keine Kinder um sich herum. Sie waren verbittert gewesen, verschreckt und ihr einziger Trost hatte darin bestanden, Furcht in den Augen der Jungen zu sehen. In Wyatts Augen hatten sie das nie gesehen, dafür hatte er gesorgt. Seinem Bruder war das nicht gelungen. Er hatte diese Verbitterung aufgesogen und sie entlud sich, als er einen Sohn bekam, Raymond.
Wyatt sah auf die Uhr. Beinahe Mittag. Er beschloss, bei seinem Postkontakt vorbeizuschauen, einem schäbigen Friseurgeschäft auf der anderen Seite des Stadtzentrums. Als er dort ankam, sagte der Friseur süffisant: »Nichts«. Wyatt zuckte mit den Achseln. Er hatte nicht wirklich Post oder Mitteilungen erwartet, ging zurück zum Kai und stieg die Kelly Steps Richtung Battery Point hoch.
Er bewohnte ein Apartment mit Blick auf den Derwent im Erdgeschoss eines Wohnblocks aus beigefarbenem Backstein. Seit gut einem Jahr hatte er hier eine Art Basislager, in einer Stadt, in der niemand ihn kannte, sich niemand darum scherte, wenn er so etwa einmal im Monat verschwand und wiederkam, wo niemand sein sporadisches Nomadentum mit einem geplünderten Safe in Toorak, mit einer um ihre Streeton-Sammlung erleichterten Eingangshalle in Vaucluse oder einer leeren Schmuckschatulle an der Goldküste in Verbindung brachte.
Frank Jardine hatte all diese Fischzüge für ihn ausgearbeitet, doch Jardine war jetzt tot und Wyatt gezwungen, seine Coups wieder selbst zu planen.
Am Ende der Kelly Street ging er nach links, über die StraÃe und marschierte die kleinen StraÃen hoch, über den Hügel von Battery Point und auf der anderen Seite wieder hinunter. Wyatt war ein gewiefter Einbrecher, aber nur, wenn er über eine Einkaufsliste verfügte und auf der Basis von Informationen aktiv wurde, die jemand wie Jardine ihm lieferte. Sein Talent kam bei Ãberfällen auf Banken und Geldtransporter zum Tragen, wenn es darum ging, schnell, effizient, gemeinsam mit einem Team aus Spezialisten zuzuschlagen. Derzeit ein vergeudetes Talent, da die Spezialisten rar geworden waren. Von Zeit zu Zeit bekam er noch immer vielversprechende Angebote, wusste aber, dass es besser war, die FüÃe stillzuhalten, als möglicherweise einen Fehler zu begehen; besser den Verlockungen des schnellen Geldes widerstehen, als Leben oder Freiheit zu riskieren.
Also, wie âºverlockendâ¹ war Raymonds Kunstraub?
Nachdem Wyatt seine Tasche ausgepackt hatte, ruhte er sich aus. Am Abend ging er in ein Bistro am Salamanca Place. Er bestellte Wein und Pasta, dann Kaffee. Früher hatte es wahre Spezialisten gegeben, Männer, die gute Autofahrer gewesen waren, die ein Sicherheitssystem hatten lahmlegen und einen Safe hatten knacken können, und alles, ohne dass auch nur ein Schuss gefallen wäre. Heutzutage traf man nur noch auf junges Volk mit unstetem Blick und unkontrollierten Bewegungen, Leute, die an der Nadel
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