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Niederschlag - ein Wyatt-Roman

Niederschlag - ein Wyatt-Roman

Titel: Niederschlag - ein Wyatt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PULP MASTER Frank Nowatzki Verlag GbR
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ging ins Badezimmer. Als Erstes schnitt er sich die Haare am Oberkopf mit einer Schere ab. Als die Büschel weg waren, nahm er einen Rasierer, ein billiges Teil, das mit seinem hohen Wimmern die Sehnerven zu zerschneiden drohte. Einen Handspiegel in der einen Hand, mit dem er den Hinterkopf im Blick hatte, stand Wyatt vor dem Wandspiegel und fuhr sich mit langen, sorgfältigen Strichen über den Kopf, bis der Oberkopf kahl war und das Haar über den Ohren und am Hinterkopf kurz geschnitten. Wyatt wirkte jetzt asketischer, markanter, wie ein Mann, der sein Leben der Vergeistigung gewidmet hatte. Zum Schluss setzte er sich eine Brille mit Kassengestell auf. Wäre es nach dem Optiker gegangen, der sich eine Stunde mit Wyatts Sehvermögen beschäftigt hatte, hätte Wyatt keine Brille benötigt, und so war die Stärke der Linsen eher schwach. Doch der Optiker hatte nicht wissen können, dass Wyatt Vermutungen Dritter vorbeugen wollte, weshalb seine Brille nur aus Fensterglas sei, und dass es ihm im Grunde nur um das schwere, schwarze Gestell gegangen war, dass sein Äußeres komplett veränderte.
    Die Fahrt nach Devonport dauerte etwa eine Stunde. Um sechs Uhr ging die Fähre ab, aber die Reederei bat die Passagiere, früher an Bord zu gehen, zudem war der Mietwagen zurückzugeben, also verließ Wyatt Flowerdale um drei Uhr nachmittags. Er trug helle Hosen aus Baumwolle, ein Polohemd und eine gefütterte Schurwolljacke. Er sah aus wie ein Lehrer oder ein Priester in Zivil. Die schwere Brille verwandelte seinen strengen, wachsamen Gesichtsausdruck in einen melancholischen, nach innen gewandten.
    Um fünf Uhr wurde Wyatt von einer Menschenmenge mitgerissen, vorbei an Getränkeautomaten, Videospielen, Spielautomaten, vorbei an Pulks von Rauchern, die sich um klobige Aschenbecher aus Chrom scharten, hinein in Gänge, die mittschiffs zur Haupttreppe führten. Von hier aus erreichte man alle Decks und er tauchte ab, hinunter ins D-Deck. Hier rauschte die Luft in den Lüftungsklappen, hier schob er sich Schulter an Schulter mit Menschen vorwärts, die sich nichts Besseres leisten konnten. Als er seine Kabine gefunden hatte, machte sie auf ihn den Eindruck einer Gruft, rosagrau und genauso trostlos wie der Bungalow in Devonport. Er ging vorsichtig hinein, inspizierte alle Ecken, alles Versteckte. Wyatt lebte in Ecken und Verstecken und dort würde ihn eines Tages auch das Ende erwarten.
    Er aß im Oberdeck an einem Tisch in der Nähe eines Fensters, nur pechschwarze Nacht und Wellen jenseits des mit Salz beschlagenen Glases; diesseits des Glases eine Welt der Dudelmusik, der Kinder, die durch Türen stürmten, der übergewichtigen Männer und Frauen, eine Welt, angefüllt mit Rauch und den ichbezogenen, leicht entzündlichen Emotionen der Herdenwesen.
    Er schlief schlecht. Die Fähre zitterte sich durch die Nacht. Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg zum Speisesaal, doch als er feststellte, dass er ein weiteres Mal wie ein Schaf eingezwängt und abgefüttert werden sollte wie ein Schwein am Trog, schnappte er sich einen Apfel und eine Banane und ging hinauf zum Oberdeck, wo der Wind kalt und sauber war und alles wegblies.
    Ein Knacken ging der Inbetriebnahme der Lautsprecheranlage voraus, dann wurden die Autofahrer gebeten, sich zu ihren Fahrzeugen zu begeben, woraufhin Wyatt in seine Kabine ging, die Tasche holte und sich bei den Fahrstühlen einfand. Seine Wahl fiel auf ein älteres Ehepaar, das Richtung Fahrstühle zuckelte und mit einem Sammelsurium aus Schultertaschen, Koffern, aber auch mit sich selbst zu kämpfen hatte.
    Â»Kann ich Ihnen helfen?«
    Â»Helfen Sie meiner Frau, einiges von dem Krempel über Bord zu werfen«, sagte der Mann.
    Â»Halt den Mund, Charlie«, sagte die Frau. Sie lächelte Wyatt an. »Das wäre wirklich nett von Ihnen.«
    Der Mann musterte Wyatt von oben bis unten. »Sie gehen zu Ihrem Wagen?«
    Wyatt lachte. »Ich fahre nicht. Ich geh zu Fuß. Ich dachte nur, Sie könnten Unterstützung brauchen.«
    Er zeigte auf die Koffer. »Die scheinen es in sich zu haben.«
    Er merkte, dass das Eis gebrochen war. Die Frau reichte ihm einen Koffer und eine Schultertasche, der Mann gab ihm eine weitere Schultertasche.
    Â»Sehr liebenswürdig von Ihnen.«
    Als sie den Lift verließen, fanden sie sich in einem bedrückend engen, stählernen Gehäuse wieder, die Luft

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