Niemand ist eine Insel (German Edition)
gedruckte Meldung und meine Gegendarstellung, die Lejeune, zum Satz eingestrichen, unter Angabe der Schriftgrade und -typen überreichte. Er überreichte noch etwas anderes und ließ es von Verleger, Justitiar und Chefredakteur unterschreiben: Wenn sein Klient bis 19 Uhr an diesem Tag nicht im Besitz eines Abzugs der Titelseite der morgigen Ausgabe war und sich mit ihrem Inhalt nicht zufrieden erklärte, werde er in meinem Namen vorgehen. Lejeune sagte dazu, er habe da einen ihm befreundeten Staatsanwalt, der für Pressesachen zuständig sei. Der werde in seinem Büro warten …
Ich dachte, daß ich gerne die Nerven von diesem Lejeune gehabt hätte. Ich hatte mich immer für tough gehalten bisher, aber ich war bloß ein Nervenbündel gegen ihn. Wäre dieser Lejeune nicht derart brutal und hinterhältig gewesen und hätte seinen Gegnern auch nur ein paar Minuten Zeit zur Überlegung gelassen, wäre das Ganze schiefgegangen, denn ganz bestimmt hätte irgend jemand im Hospital falsch reagiert und den Schwindel verraten. Ich hielt darum den Atem an, bis die drei Kerle unterschrieben hatten. Der Verleger geleitete uns, zusammen mit seinen beiden leitenden Angestellten, bis zum Lift.
Der Verleger schüttelte mir die Hand und bat mich um Verzeihung. Ich verzieh ihm. Lejeune verzieh ihm auch – ungebeten. Wir fuhren abwärts. Im fünften Stock bat uns der Chefredakteur um Verzeihung. Wir verziehen ihm, und er trat im vierten Stock aus dem Aufzug. Der Justitiar begleitete uns bis in die Halle. Er war ein älterer, würdiger Herr. Vor den Drehtüren des Eingangs sagte er zu uns: »Sie haben erpreßt, gelogen und betrogen, das wissen wir alle. Sie …« – er sah mich an – »…. verachte ich. Ihr Verhalten, Herr Kollege …« – er sah Lejeune an – »… finde ich hassenswert.«
»Tant pis«, sagte Lejeune heiter. Übersetzt heißt das etwa: Schlimm für Sie. Oder: Wie mir das egal ist. Oder auch: Das ist Ihr Bier.
Ich lachte noch auf der Straße über diese Antwort, mein Herr Richter. Weil ich eben, leider, ein Idiot bin. Ein totaler Narr.
23
U rsprünglich«, sagte Ruth, »habe ich Kunstgeschichte zu studieren begonnen. Ich war sehr an der Geschichte der Kunst, an Ästhetik und auch an Literaturgeschichte interessiert. Dann schien mir das nicht genug, und ich belegte auch noch Philosophie.«
Da war es 19 Uhr 45, am 3. Dezember 1972, einem Freitag, und Ruth und ich saßen zu beiden Seiten eines Bettes, das sich in dem kleinen Salon von Sylvias SUPER-ONE-ELEVEN befand. In dem Bett lag Babs, sehr tief schlafend unter dem Einfluß schwerer Mittel, mit denen man sie vor dem Transport versorgt hatte. Sylvias Jet flog ruhig durch eine Vollmondnacht mit klarem Himmel und unzähligen Sternen. Die Fenster des kleinen Salons waren Babs wegen abgedunkelt, doch im vorderen Teil der Kabine konnte man sie sehen – die Sterne, den Mond.
Vor einer Viertelstunde hatten wir den Flughafen Orly verlassen. Die vier Mann Besatzung befanden sich im Cockpit der Maschine. Für jeden einzelnen hätte ich die Hand ins Feuer gelegt – das waren Männer, die unter keinen Umständen eine Gefahr für uns darstellten, seit Jahren in Sylvias Diensten. Babs lag so still, daß man glauben konnte, sie sei tot. Gedämpft drang das gleichmäßige Rauschen der Strahlturbinenwerke in den Salon, in dem eine einzige kleine abgeschirmte Lampe brannte.
»Es war alles ein wenig verrückt«, fuhr Ruth fort, und ich wußte genau, daß sie sprach, um mich zu beruhigen, ruhig zu halten, mir Mut zu machen. Ich war sehr glücklich darüber, daß sie so zu mir sprach – in dieser seltsamen Nacht, hoch über den Lichtern unter uns, tief unter den kalten, funkelnden Sternen, in zehntausend Meter Höhe, vor uns ein Kind, das zwischen Tod und Leben schwebte. »Meine Doktorarbeit«, sagte Ruth, »wollte ich über Fragen der Ästhetik schreiben. Doch je länger ich studierte, um so klarer wurde es mir, daß die Frage zum Beispiel nach der Schönheit und wie wir sie empfinden zuletzt ein psychologisches Problem ist. Ich brach also mein Studium ab und fing ganz neu an – mit Medizin. Verkrachte Existenz, wie?«
Sie neigte sich über Babs, entnahm einer großen Tasche einen Blutdruckmesser und untersuchte das Mädchen, das, verrenkt, auf dem Bett schlief, auf dem ich schon so oft mit Sylvia geschlafen hatte.
Der Captain kam zu uns und sah schweigend zu.
»Wie geht es?«
»Nicht schlechter«, sagte Ruth.
Der Captain sagte: »In vierzig Minuten
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