Niemand ist eine Insel (German Edition)
sind wir über Nürnberg. Auf dem Flughafen wartet bereits eine Ambulanz, Frau Doktor. Der Wagen wird zur Maschine kommen.«
»Ich danke Ihnen, Mister Callaghan«, sagte Ruth. Der Captain verbeugte sich und ging ins Cockpit zurück. Callaghan war Kanadier.
»Er liebt Babs sehr«, sagte ich zu Ruth und hörte die Turbinenwerke rauschen. »Und er hat mir vorhin gesagt, welche Verehrung er für Sie empfindet – eine Frau mit einem so großartigen Beruf, dem menschlichsten aller Berufe.«
»Nein«, sagte sie. »Er soll nicht so von mir denken. Niemand soll das von uns Ärzten, und vor allem soll kein Arzt das von sich selber denken. Ein Arzt, der es doch tut und sich – wie ich zum Beispiel – um kranke Kinder kümmert und dabei meint, er sei eine Art von Gott gesandter Künder wahrer Humanität, der die Aufgabe hat, Großartiges für die Menschheit zu vollbringen, wird bald enttäuscht sein. Die Arbeit eines Arztes ist nicht die eines Philanthropen. Und sie ist nicht caritativ.« Ruth strich Babs’ schweißverklebtes Haar aus der Stirn.
»Aber Sie sind doch für diese Kinder da«, sagte ich. »Sie opfern ihnen doch Ihr Leben!«
»Phrasen«, sagte Ruth. »Dumme Phrasen – entschuldigen Sie!«
Sie sah mich nicht an, während sie weitersprach. Aus der Tasche ihres grünen Kostüms zog sie das abgegriffene Spielzeuglamm hervor und drehte es zwischen den Fingern. »Genauso, wie zum Beispiel ich für diese Kinder da bin, genauso sind diese Kinder für mich da, Herr Norton – wir müssen bei dem Namen ›Norton‹ bleiben, vergessen Sie das nicht.«
»Ich vergesse es nicht. Aber ich habe nicht verstanden, was Sie vorher sagten.«
Ruth sagte ernst: »Wenn wir nun nach Nürnberg in das Kinderkrankenhaus kommen, in dem ich arbeite, werden Sie viele Kinder kennenlernen. Kinder mit allen Arten von Krankheiten. Ich glaube, Sie werden am ehesten verstehen, was ich meine, wenn ich Ihnen von einem Gespräch erzähle, das ich, bevor ich nach Paris ging, mit einem dieser Kinder, einem Jungen, hatte. Tim heißt er. Ein unheilbares Kind. Querschnittgelähmt. Enorme Intelligenz. Aber wird unheilbar bleiben. Siebzehn Jahre alt. Nun, also Tim sagte zu mir: ›Weißt du, ich glaube nicht, daß du allein dazu hier bist, um mit mir zu reden und mir zuzuhören und mich zu pflegen …‹ Er sagte es mit anderen Worten, natürlich.«
»Natürlich.«
»Aber das war ihr Sinn.« Die Maschine legte sich in eine weite Kurve. Wir neigten uns beide vor, um zu verhindern, daß Babs ins Rutschen kam. Ruth sagte: »›Was glaubst du denn, Tim?‹ fragte ich ihn. Und er sagte: ›Ich stelle mir vor, daß du nicht nur versuchst, herauszufinden, was mit mir los ist, sondern daß du ebenso versuchst, herauszufinden, was mit dir los ist!‹«
Die Maschine flog nun wieder geradeaus. Wir richteten uns auf.
»Was mit Ihnen los ist, Frau Doktor?«
»Ja, das sagte Tim. Und dann sagte er: ›Sicherlich macht es dich glücklich zu glauben, daß du für mich da bist – natürlich nicht nur für mich allein, für alle Kinder hier. Aber ich glaube einfach nicht, daß du einzig und allein da bist, um uns zu pflegen. Du willst auch etwas für dich selber tun!‹«
Babs seufzte tief.
Ruth sah mich an. »Tim hat recht, Herr Norton. Ich …« – sie biß sich auf die Lippe – »… ich hatte ganz bestimmte Gründe, mein Studium der Kunstgeschichte abzubrechen und Ärztin zu werden. Kinderärztin. Kinder – noch so kranke – sind echten Gefühlen viel näher als alle Erwachsenen. Sie sind auch viel ehrlicher gegenüber sich selbst, sofern ihr Gehirn nicht zerstört ist – und selbst dann manchmal noch –, denn sie wollen verstehen, was mit ihnen los ist. Für mich, Herr Norton, ist es von Anbeginn eine einzigartige Erfahrung gewesen, Kontakt zu solchen Kindern zu haben. Sehen Sie …« Seltsam, dachte ich, wie diese so sichere und energische Frau sich plötzlich um die Formulierung jedes Satzes, um jedes Wort quält! »… sehen Sie, es ist manchmal schwer … seine eigenen Gefühle … und … und die Gründe, die einen zu einer Handlung bewegen, zu verstehen. Nun, in meinem Krankenhaus bin ich einfach gezwungen … gezwungen, ja, vor mir selber Tag um Tag über alle die Fehler, die ich begehe – und ich begehe Fehler noch und noch, Tag um Tag! –, Rechenschaft abzulegen.«
24
Z u dieser Zeit etwa (das Folgende erfuhr ich später von Rod Bracken) stoppten zwei Funkstreifenwagen vor dem Aeropuerto Barajas. Sie waren vom
Weitere Kostenlose Bücher