Niemand ist eine Insel (German Edition)
diesen Quatsch an! Wie wir Kinder lernen sollen. Als ob wir Idioten wären!« Sie zog mich, dabei ein paarmal trocken hustend – es klang, als würde sie bellen –, zu dem Rokokotisch und den bunten Schulbüchern, die auf ihm lagen. Dr. Wolken dienerte wieder.
Das war gestern nachmittag gewesen, gegen 16 Uhr. Bis 15 Uhr hielt Babs stets ihren Mittagsschlaf, dann gab es noch einmal Unterricht. In Zürich war das gewesen, im GRAND HOTEL DOLDER, hoch oben auf dem Berg über der Stadt. Durch die breiten Fenster sah ich den schönen Golfplatz, die schwarzen, entblätterten Äste der alten Bäume und, tief unten, den Zürichsee und die Stadt. Der Zürichsee war grau. Die Stadt war grau. Der Himmel war grau. Alles war grau. Das Licht verfiel bereits an diesem Novembernachmittag. Bald würde es dunkel sein.
Babs war beim Tisch angelangt.
»Da!« Empört zog sie ein aufgeschlagenes Rechenbuch heran. »Warte, gleich hab ich es.« Sie blätterte.
Dr. Wolken aus Winterthur sagte in reinstem Hochdeutsch leise zu mir: »Babs ist ein sehr kritisches Kind. Überintelligent. Ich habe diese Schulbücher nicht gemacht, Herr Kaven. Es sind die modernsten. Beinahe genormt finden Sie in der ganzen Welt nur noch Schulbücher dieser Art.«
Dr. Wolken hatte die Angewohnheit, sich auch beim Sprechen dauernd zu verneigen. Er wippte dabei auf den Sohlen leicht vor und zurück, der Kopf senkte und hob sich im Takt. Für eine solche Servilität bestand wahrhaftig kein Anlaß, jedenfalls keiner, den ich kannte. Dieser Mann war uns von der Spitzenorganisation aller Schweizer Internate als der beste empfohlen worden, den es für Babs gebe, und das war er gewiß auch. Vielleicht … Wissen Sie, mein Herr Richter, ich habe die Erfahrung gemacht, daß besonders begabte und besonders gebildete Menschen, auch sehr erfolgreiche, oft fast krankhaft schüchtern und menschenscheu sind.
Babs hatte diesen Dr. Wolken gern. Wir hatten ihn alle gern. Er war stets tadellos und dabei unauffällig gekleidet. Er hatte blaue Kinderaugen, ein schmales Gesicht, das er, dachte ich stets, am liebsten hinter einer Maske versteckt hätte, und einen Kinnbart. Blaßblond gleich dem schon schütteren Haupthaar. Dr. Wolken war sechsundvierzig.
Babs hatte, das Buch vor sich, das Gesicht in die kleinen Fäuste gestützt, vorzulesen begonnen: »Frau Neugier fragt den Großvater, wie alt die Enkelkinder sind. Der Großvater antwortet: ›Georg und Erika sind zusammen zwölf Jahre alt. Erika ist um zwei Jahre …‹« Sie nieste und wischte mit dem Handrücken über die Nase.
»Gesundheit!« wünschte Dr. Wolken, sich verbeugend.
»Danke, Herr Doktor! ›Erika ist um zwei Jahre älter als Georg. Hubert und Martin sind zusammen dreiundzwanzig Jahre alt. Hubert ist …‹« Babs mußte Atem holen, es pfiff ein bißchen, sie hatte rasend schnell gelesen, die Puste war ihr ausgegangen, »›… drei Jahre jünger als Martin. Und Thomas ist so alt wie Georg und Hubert zusammen.‹« Babs sah zu mir auf, die Stirn gerunzelt. »Hast du schon mal so was gehört? Glaubst du, ein Großvater sagt so, wie alt seine Enkel sind?«
»Das ist Absicht«, sagte ich. »Damit Kinder, die Rechnen lernen, ihren Spaß an einem kleinen Rätsel haben. Darum redet der Großvater so!«
»Ja, aber doch zu Frau Neugier! Wenn ihn noch ein Kind gefragt hätte – wegen deinem Rätsel, und damit das Kind mit mehr Spaß Rechnen lernt! Wäre auch noch blöd genug gewesen, aber bitte. Er sagt das aber einer erwachsenen Frau! ›Frau Neugier‹ muß die heißen. Das ist lustig, ja? Damit wir Kinder auch lernen, was lustig ist!« Wieder hustete Babs. »Was soll das, Phil? Wenn die a, b, c, d und so genommen hätten mit ein paar Gleichungen! Nein, der Großvater muß ein ganzes Exposé erzählen!« Exposé – das Wort kannte sie, wußte, was es bedeutete. Babs kannte viele Worte aus der Welt der Großen, schließlich war sie dauernd zusammen mit dieser Mutter. Babs schüttelte ungehalten den Kopf. »Wenn Kinder älter werden, wird ihnen dann immer weiter solcher Stumpfsinn serviert?«
Dr. Wolken lachte.
»Siehst du, sogar Herr Doktor Wolken findet das idiotisch!«
»Es klingt für dich idiotisch, Babs«, sagte ich. »Anderen Kindern gefällt es bestimmt!«
»Na, also weißt du, Phil«, sagte Babs, »ich kenne ja durch unseren Beruf nicht sehr viele Kinder, aber doch ein paar. Von Tante Elizabeth und Tante Romy und Tante Claudia, nicht? Die werden auch so erzogen wie ich. Das nächste
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