Niemand ist eine Insel (German Edition)
Carmen vor mir stehen, nackt.
»Wir haben noch drei Tage Zeit«, sagt Ruth. »Wir werden – und wenn das unter den Umständen noch so kompliziert ist – eine genaue Untersuchung vornehmen, damit wir wissen, woran wir sind. Sie können doch bis zum ersten Februar hierbleiben?«
»Natürlich. Ich muß nur sofort Bracken anrufen. Darf ich das, aus Ihrem Zimmer?«
»Gewiß, Herr Norton.«
Ich sehe Babs an. Ich habe das Gefühl, daß das Schielen von Sekunde zu Sekunde furchtbarer wird. Ich muß wegsehen. Ich sehe ihren geliebten Nounours, den sie zerfetzt hat. Ich öffne die Tür und lasse Ruth auf den Gang treten. Ich folge ihr und sage sogleich: »Frau Doktor!«
»Herr Norton?«
»Sie gehen den Gang in die falsche Richtung hinunter – Ihr Zimmer liegt auf der anderen Seite.«
Erschrocken sagt Ruth: »Das ist mir hier im Krankenhaus noch nie passiert.« Es klingt, als sei sie äußerst verstört darüber. Ich bin es auch. Was jetzt?
Samstag, 29. Januar 1972, bis Dienstag, 1. Februar 1972: Ich verständige Bracken. Er flucht unflätig. Wird sofort Joe anrufen. Joe muß nach Paris fliegen und dort sein, wenn Sylvia wieder ins LE MONDE kommt und die Wahrheit erfährt. Jetzt müssen Entscheidungen auf lange Sicht getroffen werden.
Obwohl ich in den nächsten Tagen kaum das Krankenhaus verlasse, sehe ich Ruth nur für Stunden. Ein ganzes Team ist dabei, Babs zu untersuchen, um eine endgültige Diagnose zu stellen. Ich sitze oft und lange in Ruths Zimmer, an ihrem Schreibtisch, vor den zehn kleinen Lumpen-Männern. Nun muß ich warten.
Immer wieder ruft Bracken an. Was ist los? – Weiß ich noch nicht. – Joe und seine Crew bereits unterwegs nach Paris. – Ich warte und lese.
Unter anderem lese ich, daß 1968 von der ›Internationalen Liga‹ in Jerusalem eine ›Deklaration der Rechte der geistig Behinderten‹ einstimmig angenommen worden ist. Vor ganz kurzer Zeit, nämlich am 20. Dezember 1971 – Babs war da schon krank –, hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen sich einstimmig hinter jene Deklaration gestellt und sie mit einer langen Präambel versehen. Das Ende des Artikels VII dieser Präambel lautet, und in der deutschen und der englischen Fassung, die beide vor mir liegen, sind die Wörter in Großbuchstaben gesetzt:
VOR ALLEM HAT DER GEISTIG BEHINDERTE EIN ANRECHT DARAUF, ALS MENSCH GEACHTET ZU WERDEN.
Und auch dies lese ich:
MEINUNGSUMFRAGE: Das Image von behinderten Kindern bei der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, Spezialerhebung, Juli/August 1969.
Rund 90 % der 2000 befragten Bundesbürger im Alter von 16 bis 90 Jahren wissen nicht, wie sie sich einem geistig behinderten Menschen gegenüber verhalten sollen.
70 % der Befragten glauben, daß man sich vor ihnen ekeln könne.
56 % möchten nicht mit einem Behinderten in einem Haus wohnen.
78 % halten nichts davon, behinderte Kinder in der Familie zu versorgen. Sie finden, man sollte solche Kinder in Heimen oder Anstalten unterbringen.
60 % sind dagegen, daß mißgebildet geborene, geistig behinderte Kinder mit ärztlichen Bemühungen am Leben erhalten werden …
Am Abend des 31. Januar 1972 sitzt Ruth an ihrem Schreibtisch, ich sitze ihr gegenüber. Alle Untersuchungen sind abgeschlossen. Ruth sagt: »Herr Norton, die Befunde sind sehr schlecht.«
»Wie ist das möglich? Es ist Babs doch immer besser und besser gegangen – bei den Tests war ich dabei, erinnern Sie sich?«
»Ich erinnere mich. Die Situation hat sich völlig ins Gegenteil verkehrt – das ist das Schlimme bei dieser Erkrankung. Ich darf und ich will Sie nicht belügen, Herr Norton: Diese Krankheit hat schwere Schäden bei Babs hinterlassen, die nun endgültig zum Durchbruch gekommen sind – in einer selbst für uns unbegreiflichen Umkehr dessen, was eben noch war. Aber unsere Untersuchungen sind exakt.«
»Was für schwere Schäden?«
»Gehirnschäden, Herr Norton.«
Danach spricht Ruth lange in einer Flut von Fachausdrücken, die ich nicht verstehe. Bewegungsabläufe und Feinmotorik plump … Zerstörungswut … Aggressivität … Jähzorn … Reizgebundenheit der Hirntraumatiker …
Hirntraumatiker!
Also ein Kretin. Ein Idiotenkind. Wovor ich gezittert habe. Was nicht der Fall zu sein schien. Worüber Sylvia einst so herzbewegend im Fernsehen gesprochen und sich danach so katastrophal in jener Garderobe geäußert hat. Umbringen, diese Kretins! hat sie geschrien. Sofort umbringen!
Also, was machen wir jetzt?
Weitere Kostenlose Bücher