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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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groß vorkommt, wenn er sich ständig darüber beschwert, daß seine Leistungen nicht genug Anerkennung finden, warum geht er dann nicht?«
    »Er kann doch nicht, und Sie wissen es, Herr Kaven«, sagte Clarissa. »Sie wissen doch, von welcher panischen Angst er besessen ist.«
    Das wußte ich. Sylvia hatte es mir gesagt. Rod hatte es einmal, volltrunken, Sylvia verraten: Er stammte aus New York und daselbst aus der Bronx. Sein Vater war ein Säufer gewesen und seine Mutter eine Hure. Beide starben, bevor Rod zehn war. Er kam in ein Heim. Dort gab es sehr wenig zu essen und sehr viel Prügel. Rod wuchs im New Yorker Elend auf, und das New Yorker Elend ist ein ganz besonderes Elend. Rod bettelte und stahl, war Schuhputzjunge, Tellerwäscher, Autowäscher, Leichenwäscher, war Lehrling bei einem sadistischen Elektromechaniker und dann bei einem gelähmten Taschendieb, der Banden von Jugendlichen ausbildete und losschickte. Mit dreizehn Jahren hatte Rod sein erstes sexuelles Erlebnis, unmittelbar danach hatte er seinen ersten Tripper, weshalb er alles, was weiblich war, haßte, was ihn zu den abgewrackten Tunten in den Stehkneipen an der Waterfront trieb und ihm die andere Seite der Liebe bescherte. Er war Dachdecker, Tankwart, Telegrammbote der WESTERN UNION, als diese ihre Boten noch verpflichtete, Glückwunschtelegramme den Empfängern vorzusingen (Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, dear Mister Cockleburn, happy birthday to you!), er war verantwortlich für die Zentralheizung in einem Wolkenkratzer, schlief da unten im Keller bei den riesigen Boilern, arbeitete als Kartenknipser auf den Ferries über den Hudson-River, war bei einer Straßenreinigungsbrigade, war ›Hey, boy!‹ einer Zeitungsredaktion, war angestellt von einer Bordellmamsell, der er gegen Prozente besoffene Matrosen brachte, und dann, für ein Konkurrenzunternehmen, alte Kerle zu minderjährigen Mädchen, es gab wohl nichts, was Rod Bracken nicht gewesen war, bevor er bei einem ›Finanzberater‹ als Geldeintreiber landete.
    Diesem Finanzberater hatten sie in Deutschland aus guten Gründen die Lizenz entzogen, er war nach New York gegangen und half seinen Kunden hier, ein krummes Ding nach dem andern zu drehen. Indessen: Einmal war er ein großer Mann gewesen, ein Experte des Steuerrechts vieler Länder. Und gleich einem, der einen Ziegelstein mit sich schleppt, um zu zeigen, wie einst sein Haus aussah (Brecht, Brecht, ach, unsere Bibliothek, mein Herr Richter!), so hatte jener kriminelle Steuerberater eine gewaltige Fachbibliothek mit nach Amerika gebracht. Da standen nun die Bücher, auf Regalen, in einem fensterlosen Hinterzimmer – und jede freie Minute, sehr, sehr viele Nächte hindurch, verbrachte Rod Bracken mit ihrer Lektüre, insbesondere informierte er sich über deutsches Steuerrecht. (Er brachte zu all dem die Energie auf, Sprachkurse zu besuchen!) Bracken war in der Tat ein Experte, als er sich nach München aufmachte, um mit dem ›Chuzpe-Film‹ seine grandiose Karriere zu starten. Doch die panische Angst, die Bracken seither (vorher war das nicht so gewesen) verfolgte bis in seine Träume, auch heute noch, ja, auch heute, war die vor einer Rückkehr in jene Hölle des frühen Elends. Er hatte nur einen einzigen, erbärmlich übermächtigen Gedanken, er, den die Branche für den kältesten und gerissensten aller Agenten hielt, diesen Gedanken: Nie, nie, nie mehr arm sein!
    »Sie wissen es, Herr Kaven«, sagte Clarissa. »Sie wissen, daß er deshalb niemals von Mrs. Moran weggehen wird. Und wenn sie ihn hinauswirft, dann wird er vor ihr in die Knie fallen und ihre Schuhe lecken und sie anflehen, ihn zu behalten, zu jedem Preis, zu jeder Bedingung!«
    »Ich weiß, warum ich Rod nicht leiden kann, Clarissa«, sagte ich. »Weil er mich derartig behandelt. Wie einen Zuhälter, ja, ja, widersprechen Sie nicht, wie einen Erbschleicher, einen Gigolo, einen Lumpen, einen Dieb, immerzu. Warum aber tut er das, Clarissa, warum?«
    Und der große blonde Rheinländer saß da und betrachtete uns brütend und trank seine zweite Flasche Bier.
    »Ach«, sagte Clarissa, die sonst so stille Clarissa, fast erschreckend lebhaft, »weil er Sie natürlich grenzenlos bewundert, Herr Kaven!«
    »Bewundert? Mich? Wofür?« Was für ein seltsames Gespräch das war in jener Nacht, hoch über den vielen schnellen Lichtern, irgendwo in der Schweiz, irgendwo in der Welt.
    »Für Ihren Charme. Für Ihren Witz. Für Ihren Geist. Dafür,

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