Niemand ist ohne Schuld - Dark village ; 3
die ihre Wohnung durchqueren.
Wenn kein Mann da ist, trinkt die Mutter allein und hört sich melancholische Lieder an. Sie singt mit, und je mehr sie trinkt, umso lauter singt sie. Das Lied, das sie am häufigsten hört, handelt vom Regenbogen und allen Träumen, die in Erfüllung gehen.
âOberpeinlichâ, flüstert Katie.
Sie fängt an, die Nachbarschaft und die Stadt zu erkunden. Wenn ihre Mutter tagsüber schläft â entweder weil sie voll ist oder die ganze Nacht über unterwegs war oder beides â schleicht sich Katie über die Feuerleiter nach unten. Vorher gibt sie Nicholas etwas zu essen und parkt ihn vor dem Fernseher, in dem es unendlich viele Programme mit Zeichentrickserien gibt.
Und eines Tages â als sie schon fast ein Jahr dort sind â nimmt sie ihn mit zu dem fast hundert Jahre alten Vergnügungspark auf Coney Island. Mit der U-Bahn fahren sie bis Stillwell und von dort aus gehen sie zu FuÃ. Der Eintritt ist frei, aber jedes Fahrgeschäft kostet zwei oder drei Dollar. Katie hat Geld. Nicholas weià nicht, woher sie das hat. Die Mutter gibt ihnen nie Taschengeld.
Der Vergnügungspark dreht sich lebendig im Kreis. Ãberall ist Musik und Gelächter zu hören, überall hängen Plakate und Schilder und alles leuchtet hell und sauber. Es gibt ein Riesenrad und eine SchieÃbude und Autoscooter, Karusselle und eine Geisterbahn, einen Feuerschlucker und einen Schlangenbändiger und eine Frau mit groÃflächigen Tätowierungen, die Insekten isst. Und ganz am Schluss steht der Cyclone.
âNicholasâ, sagt Katie und zeigt auf die riesige Achterbahn. âHast du Lust?â
Sie gehen darauf zu. SchlieÃlich bleiben sie Hand in Hand davor stehen und schauen hinauf. Die Bahn ist gigantisch. Sie steht auf hohen weiÃen Stelzen. Die Schienen sind rostrot.
Nicholas weiÃ, dass sie schon alt ist. Das hat Katie ihm gestern erzählt. Schon über siebzig Jahre. Es macht einen fürchterlichen Lärm, wenn die Wagen abwärtssausen. Der Cyclone ist ein Inferno aus quietschendem Holz, schlagendem Metall und schreienden Menschen.
Der Cyclone bebt und vibriert, er lebt â er ist ein riesiges, sich aufbäumendes Monster.
Nicholas wird es heià und er bekommt Angst. Er will nicht mehr hinsehen. Er will weg.
Katie lächelt ihn an. âHast du Lust?â
Nein , denkt er, beinahe panisch. Aber er weiÃ, dass sie Lust hat. Sie hat sogar sehr groÃe Lust, das hat sie gestern gesagt. Sie wollte vor allem hierher, weil sie mit dem Cyclone fahren möchte. Wenn er jetzt Nein sagt, kann sie das nicht. Nie im Leben würde sie ihn allein warten lassen. Nicht hier, wo so viel seltsame Menschen sind und alles Mögliche passieren kann.
Spielerisch schlenkert sie mit seiner Hand. âUnd? Hast du Lust, Nicholas?â
2
Shit !
Mit einem Ruck setzte sich Nick im Bett auf. Er sah auf die Uhr auf der Kommode. Nur noch eine halbe Stunde bis zu seiner Verabredung mit Nora. Er war eingeschlafen und hatte geträumt. Von New York und der Mutter und von Katie. Von früher.
Er schwang die Beine aus dem Bett und blieb noch eine Minute sitzen, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und bekam langsam wieder seinen Atem unter Kontrolle.
Schon komisch, dass er sich an so viele Einzelheiten erinnerte. Sie hätten schon längst verblassen und sich auflösen sollen.
Zwei Jahre hatten sie in New York verbracht. Bis sich die Mutter mit Alkohol, Tabletten und Männern zugrunde gerichtet hatte und der social service bemerkte, dass die Kinder norwegische Pässe und keine Verwandten in den USA hatten. Die Botschaft wurde informiert und die Mühlen der Bürokratie begannen zu mahlen. Drei Monate später waren Nick und Katie wieder in Norwegen, erst bei einer vorläufigen Pflegefamilie, dann bei einer, wo sie dauerhaft bleiben sollten.
Und so war es ja auch irgendwie , dachte Nick. Nicht für mich, aber für Katie. Es war ihre allerletzte Pflegefamilie .
Er stand auf und ging ins Bad, wo er sich das Gesicht wusch und die Haare zurückkämmte. Er hatte schon geduscht, nach dem Sportunterricht, darum wechselte er nur sein T-Shirt, zog das graue Jackett drüber und lief die Treppe hinunter. âIch bin weg!â, rief er und warf die Haustür hinter sich zu.
Er sah, dass Eline am Fenster stand und ihm lächelnd zuwinkte. Er winkte zurück. Sie war endlich gesund. Eine Weile hatte es
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