Niemand kennt mich so wie du
damit, dass er sie beleidigte: «Ich meine, eine Frau in deinem Alter! Das ist doch lächerlich! Die jungen Mädchen müssen dich doch auslachen» oder «Du bist nicht halb so niedlich, wie du tust, Lily».
Darauf folgten Geschrei und Türenknallen auf beiden Seiten. Er zog ab und beruhigte sich mit einer Runde Golf oder Bridge bei seinen Kumpels. Sie ging in die Wanne und verbot sich zu weinen. Lily versuchte tatsächlich, es immer allen Leuten recht zu machen. Na und? Was ist denn daran so schlimm? Wieso kannst du mich nicht einfach lieben, wie ich bin, und mich in Frieden lassen?
Als Lily heiratete, war sie gerade neunzehn Jahre alt und konnte zwar ein bisschen kochen, aber nicht so, wie es sich ihrer Meinung nach für eine Ehefrau gehörte. Natürlich absolvierte sie die Schwesternschule mit links, und obwohl sie im ersten Jahr Unterricht hatte, musste sie so gut wie nie die Nase in ein Lehrbuch stecken. Anstatt zu lernen, besuchte sie Kochkurse, und als ihre Lehrerin ihr sagte, sie habe ein echtes Händchen fürs Kochen, besuchte sie mehr und mehr Kurse, bis sie es mit jedem Meisterkoch hätte aufnehmen können. Sie führte ihre Küche wie ein kleines Hotel. Teils, weil ihr Ehemann sehr anspruchsvoll war, und teils, weil sie auch in ihrer Ehe von Anfang an hohe Erwartungen an sich selbst stellte. Und auch wenn es utopisch sein mochte, so verfolgte sie dennoch immer das Ziel, die perfekte Ehefrau und Mutter zu sein.
Natürlich versuchte sie auch, die perfekte Krankenschwester und Nachbarin zu sein. Die Arbeit in der Pflege war einfach. Menschen waren krank und niedergeschlagen, und es lag in Lilys Hand, ob sie sich besser oder schlechter fühlten. Die Ergebnisse waren offensichtlich. An den nachbarschaftlichen Qualitäten musste sie schon härter arbeiten. Man konnte sich jederzeit an Lily wenden, und auf sie war stets Verlass, wenn man Hilfe brauchte – sei es bei der Abflussreinigung, beim Umnähen eines Saums oder bei der Mund-zu-Mund-Beatmung. Doch Lilys Art ließ bei einigen Nachbarinnen die Galle hochsteigen. Der Spitzname Little Miss Sunshine war nicht ausschließlich als Kompliment gemeint. Lily besaß eine schnelle Auffassungsgabe, war immer zu Scherzen aufgelegt und verstand sich sehr gut mit Männern, die sie alle mochten, einige sogar ein bisschen zu sehr. Die zierliche, schöne, zartgliedrige, puppengesichtige, ein Meter sechzig große Lily mit dem schimmernden dunkelbraunen Bob, den braunen Augen, den weichen Lippen und dem dank ihres abwesenden griechischen Vaters seidigen cappuccinofarbenen Teint war stets die Schönste im Saal. Wenn sie sich entschuldigend ihren Weg durch ein volles Zimmer bahnte, folgten ihr alle Männer mit Blicken. Wenn sie lachte, lachten sie alle eifrig mit ihr, wenn sie sprach, hörten sie ihr aufmerksam zu, während sie sie gleichzeitig mit Blicken verschlangen und sich vorstellten, was sie alles mit ihr anstellen würden, wenn sie sie ranließe. Ihre Nachbarinnen merkten es, ihr Ehemann merkte es, ihre Kolleginnen merkten es, jede Frau nach Eve, zu der sie versucht hatte, eine echte Freundschaft aufzubauen, hatte es gemerkt. Die Einzige, die es nicht zu merken schien, war Lily selbst. Wenn sie in den Spiegel blickte, sah sie eine dreißigjährige Frau, die immer noch oft in der Kinderabteilung einkaufte. Sie hatte spindeldürre Beine, winzige Brüste und riesige Augen, und obwohl sie seit zwanzig Jahren arbeitete und zwei Kinder in die Welt gesetzt hatte, hatte der Gasmann neulich an der Tür geklingelt und gefragt, ob ihre Mama zu Hause wäre. Nicht wirklich sexy, oder? Was Lily als freundschaftliches Geplänkel verstand, empfanden ihr Ehemann und der Rest der Welt als Flirterei. Ihn trieb es zur Raserei, und ihre Nachbarinnen befremdete es, dabei tat Lily es nie mit Absicht. Sie dachte sich nichts dabei. Es gehörte einfach zu ihr und zu ihrem Umgang mit Menschen. Manchmal, wenn ihr Ehemann ihr Verhalten besonders missbilligte, sah sie sich mit seinen Augen, und dann hasste sie sich für ihre Art. Binnen einer Sekunde wurde sie von seiner Ehefrau und der Mutter seiner Kinder zu einer flatterhaften, unbedeutenden, oberflächlichen, dummen Nervensäge, die nicht nur aussah wie ein Kind, sondern sich auch so benahm. Sie fühlte sich dann minderwertig als Frau, so wie sie sich früher nicht wirklich wie eine Tochter gefühlt hatte, verloren und dem Untergang geweiht. Wenn solche Gedanken kamen, riss Lily sich am Riemen, erinnerte sich daran, dass ihre Mutter eine blöde
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