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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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zur
Treppe, die zur Anlegestelle hinabführte. Zuerst sah ich nichts als den
Lichtstreifen, den der Mond auf den See warf. Dann entdeckte ich Lilys
hellfarbenen Sweater und den Hut des Mannes. Sie waren jetzt am Ende des
Anlegestegs.
    Ich berührte Hys Arm und zeigte auf
sie.
    Er nickte und beschleunigte seine
Schritte.
    Und dann schrie der Mann in Lilys
Begleitung auf. Es war kein betrunkenes Grölen, sondern ein Schrei, um
Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem klang etwas wie Schreck und Überraschung
mit.
    Ripinsky und ich rannten los. Unten am
Steg ging Lily Nickles in die Hocke. Der Mann schrie wieder.
    Auf der Treppe stieß ich gegen
Ripinsky, stolperte und verpaßte zwei Stufen, bevor ich mich wieder fing. Ich
sah, wie Lilys Begleiter jetzt versteinert hinter ihr stand. Sie starrten über
den Rand des Stegs ins Wasser.
    Ich raste über den Steg nach vorn,
Ripinsky mir nach. Der Steg schwankte und zitterte unter unserem Gewicht. Ich
stieß den noch immer erstarrten Mann zur Seite und packte Lily Nickles bei den
nach vorn gesackten Schultern.
    »Lily, was ist los?«
    Sie fuhr herum. In ihrem Gesicht
standen Schock und Verwirrung. Ich hockte mich neben sie und legte ihr den Arm
um die Schultern.
    Ripinsky schob sich an uns vorbei. Ich
hörte ihn überrascht aufstöhnen.
    Lily hielt sich ganz still. Sie roch
nach Bier und Rauch. Ich hielt sie fest und sah über ihre Schulter zu Hy.
    Er trat vom Ende des Stegs zurück und
zeigte hinunter. Ich beugte mich vor und spähte in die Dunkelheit.
    Im Wasser trieb eine Leiche. Die
Wellen, die durch die Bewegungen des Stegs entstanden waren, ließen sie gegen
das Holz stoßen. Der Größe nach eine männliche Leiche in heller Kleidung. Das
Gesicht nach unten, die Schultern hochgezogen. Und immer wieder stieß sie gegen
den Steg...
    Ich sah weg und sagte zu Lilys
Tanzpartner: »Bringen Sie sie zurück ins Restaurant. Jemand soll beim Sheriff
anrufen.«
    Er löste sich aus seiner Erstarrung,
trat einen Schritt vor und zog Lily auf die Füße. Der Schock hatte ihn ernüchtert.
Sie dagegen war schlaff wie ein Sack. Er mußte sie stützen, als sie langsam den
Steg verließen.
    Ripinsky hockte sich nieder, um nach
der Leiche zu greifen. Ich half ihm zögernd. Zuerst trieb sie von uns weg, dann
wieder zurück. Zusammen konnten wir sie packen und zogen sie auf den Steg. Ich
wich zurück, als sie auf die Planken schlug.
    Ripinskys und mein Blick trafen sich.
Seine Augen waren so schwarz und glänzend wie das Wasser. Er zögerte, dann
packte er den Leichnam bei den Schultern und drehte ihn auf den Rücken.
    Das Gesicht des Mannes starrte uns an,
leer und tot. Es war rund, hübsch und stupsnasig und viel zu jung für das
füllige weiße Haar, das ihm an Stirn und Schädel klebte. Er konnte noch nicht
lange im Wasser gewesen sein. Er war weder aufgebläht, noch roch er. Zwei
dunkle Löcher verunzierten seine blaßweiße Hemdbrust — die Einschußlöcher einer
kleinkalibrigen Waffe.
    Ich fragte: »Kennen Sie ihn?«
    »Ich habe ihn noch nie gesehen.«
    Ripinsky hockte sich erneut nieder und
fing an, die Taschen des Toten zu durchsuchen. Aus der braunen Jacke zog er
eine Brieftasche. Er stand auf, holte Streichhölzer aus der eigenen Tasche und
reichte sie mir. Ich riß eines an und hielt es so, daß er den Inhalt der
Brieftasche untersuchen konnte.
    »Führerschein«, sagte er nach ein paar
Sekunden, »auf den Namen Michael M. Erickson. Adresse: Barbary Park in San
Francisco. Jede Menge Plastik: American Express, Visa, Master Card,
Kundenkarten, Versicherungskarte.«
    »Haben Sie schon einmal von ihm
gehört?«
    »Nein.« Er fuhr fort mit der
Untersuchung der Brieftasche.
    Das Streichholz verbrannte mir die
Finger. Ich warf es ins Wasser, zündete ein neues an und starrte auf das
Gesicht des toten Mannes.
    Michael M. Erickson. Ein Einwohner von
San Francisco, wie ich. Barbary Park war eine moderne Wohngegegend im
Finanzdistrikt — Stadtwohnungen in den oberen Stockwerken über Läden und Büros,
durch Fußgängerwege verbunden mit dem nahe gelegenen Golden Gateway und dem
Embarcadero Center. Vielleicht keine erste Adresse, gemessen an den Standards
der Oberschicht der Stadt, aber teuer. Hier in Vernon befand sich Erickson so
weit entfernt von seinem gewohnten Milieu wie nur denkbar. Und so weit entfernt
vom Leben, wie man nur...
    Das Grauen, die Nutzlosigkeit eines
gewaltsamen Todes ließen mich schaudern.
    Plötzlich stieß Ripinsky einen Pfiff
aus. Es folgte, ein »Na, also!«
    Ich

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