Niewinter 4: Die letzte Grenze
würde.
»Auf eine solche Nacht haben sie gewartet«, bemerkte Drizzt, als die fünf einmal kurz unter sich waren. »Und auf den Funken Hoffnung, den wir ihnen gebracht haben. Diese Stadt war zu lange auf dem Rückzug und Umberlees Anhänger zu lange auf dem Vormarsch.«
»Tja, aber wird es hinterher nicht genauso weitergehen?«, fragte Ambergris.
»Nur wenn wir es zulassen«, meldete Afafrenfere sich zu Wort, ehe Drizzt etwas sagen konnte. Der Drow zeigte seine Zustimmung mit einem Lächeln.
Wieder kamen Leute an ihren Tisch, die randvolle, schäumende Krüge brachten, und ihr Gespräch musste den vielstimmigen Jubel verkraften, der ihnen entgegenbrandete. All das nahm die Zwergin mit einem zahnlückigen Grinsen auf und schwelgte in den Lobeshymnen, wobei das Bier ihr allerdings noch weit besser mundete.
Auch Afafrenfere genoss seinen Ruhm, verzichtete jedoch auf den Alkohol. Die Becher, die man ihm hinstellte, schob er zu der Zwergin weiter, was Ambergris natürlich umso glücklicher stimmte.
Die Reaktion seiner Gefährten auf die ausgelassene Siegesfeier freute Drizzt sogar noch mehr als das Glück der Stadtbewohner und das Freibier, bei dem er sich eher zurückhielt. Es tat ihm gut, Ambergris zu beobachten, die ihn an so viele alte Freunde aus den Jahrzehnten in Mithril-Halle erinnerte, aber auch Afafrenfere, der den Glauben der Zwergin an seinen guten Kern zu bestätigen schien. Richtig warm ums Herz wurde Drizzt jedoch insbesondere bei Dahlias strahlendem Gesicht. Dieses Strahlen hatte sie verdient, dachte er.
Die Reise nach Gauntlgrym hatte der jungen Frau viel abverlangt. Selbst der heiß ersehnte Sieg über Erzgo Alegni hatte sie mehr gekostet, als er ihr eingebracht hatte, wie Drizzt wusste. Bevor sie erfahren hatten, dass Alegni den Kampf an der Lindwurmbrücke überlebt hatte, hatte Entreri in den Raum gestellt, dass die Vorfreude auf ihre Rache Dahlias lodernde Wut vielleicht besser befriedigen konnte als die tatsächliche Rache. Das hatte Entreri dem Drow damit erklärt, dass man sich schließlich immer gern einredete, ein bestimmtes Ereignis in der Zukunft würde weitaus mehr Probleme lösen, als es bei dessen Eintreffen am Ende tatsächlich der Fall war.
Jetzt wand sich Drizzt innerlich, wenn er die junge Elfe betrachtete und diesem Anblick die Erinnerung an die Dahlia gegenüberstellte, die mit ihren wirbelnden Flegeln zügellos auf den Kopf des toten Erzgo Alegni eingeschlagen hatte. Die Tränen, das Entsetzen, der anhaltende Zorn … nein, Zorn war nicht annähernd das passende Wort für die Gefühle, die aus der tobenden Dahlia herausgeströmt waren.
Inzwischen begriff Drizzt ihre Raserei natürlich besser, denn Dahlia hatte ihm einen wahrhaft grauenvollen Vorfall geschildert. Erzgo Alegni hatte ihre Mutter getötet, aber erst nachdem er zuvor Dahlia vergewaltigt hatte, die damals praktisch noch ein Kind gewesen war.
Und zu den komplizierten Gefühlen, die wegen ihrer Rache in Dahlia tobten, gesellte sich nun noch eine zweite, noch tiefere schwärende Wunde: die Existenz des verkrüppelten Tiefling-Hexers, Dahlias Sohn. Was musste in dieser manchmal so zerbrechlich wirkenden Frau vorgehen?, fragte sich Drizzt. Welche Fragen, auf die es keine Antwort gab, welch tiefe Reue?
Drizzt konnte es sich kaum vorstellen. In seiner Vergangenheit gab es nichts, was mit dem Sturm vergleichbar gewesen wäre, der in Dahlia brodelte. Er hatte seine eigenen Prüfungen und Verletzungen durchlebt, doch selbst der wiederholte Verrat durch die eigene Familie schien vor dem zu verblassen, was diese junge Elfe durchgemacht hatte – und das erinnerte Drizzt daran, dass sie gerade erst in dem Alter war, in dem er einst Haus Do’Urden verlassen hatte, um seine Ausbildung in Melee-Magthere anzutreten.
Er wollte sich einfühlsam und verständnisvoll zeigen, ihr Rat und Trost spenden, aber alles, was er sagen konnte, würde letztlich nur hohl klingen.
Er konnte es nicht wirklich verstehen.
Bei diesem Gedanken wandte er sich dem zu, der dies offenbar vermochte. Aufgrund eines ähnlichen Schicksals konnten Artemis Entreri und Dahlia einander Trost spenden. Für Drizzt war das eine unleugbare Tatsache. Jetzt verstand er ihre leisen Wortwechsel. Wie dumm er sich angesichts seiner irrationalen Eifersucht und seines Zorns heute vorkam! Zwar hatte das teuflische Schwert, Charons Klaue, seine Reaktion verstärkt und ihn unaufhörlich mit der Vorstellung ihrer leidenschaftlich ineinander verschlungenen Leiber
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