Nigger Heaven - Roman
die Armen, beten und singen mit Freuden weiter, aber ich glaube nicht, dass sie die Religion wirklich berührt, sie brauchen sie, um der Monotonie ihres Daseins zu entfliehen. Sie spielen trotzdem in der Lotterie oder tanzen sonntags und tun überdies all das, was ihre Religion ihnen eigentlich verbietet. Am Sonntag amüsieren sie sich in der Kirche, unter der Woche in den Nachtlokalen. Aber die Menschen, die die Spirituals erfanden, müssen wahrhaft gläubig gewesen sein, und darum glaube ich, rühren sie uns so an und werfen uns um und erwecken den Wunsch in uns, zu weinen oder zu schreien.
Mary war, ohne einem Bekannten zu begegnen, am Park angelangt. Sie schlug einen Pfad ein, der nasse Kies knirschte unter ihren Stiefeln, von den welkenden Blättern peitschte der Wind Regentropfen auf ihre Wangen. Sie kam an einer Wiese vorbei, wo sie, wie ihr jetzt einfiel, vor einigen Tagen ein merkwürdiges Schauspiel beobachtet hatte: Eine Gruppe von Schwarzen, von einer der Westindischen Inseln, die zu England gehörten, stammend – Affenjäger nannte man sie auf der Lenox Avenue –, spielte dort formvollendetes Cricket. Was für eine gute Geschichte hätte Rudolph Fisher über sie und das Misstrauen und die mitunter tiefe Abneigung, die gegen sie in Harlem herrschte, geschrieben! Sie hatte ihnen eine Weile zugesehen und ihrem Cockney-Akzent gelauscht. Was sind wir nur für ein Volk, hatte sie gedacht. Über die ganze Erde und in fremde Länder verstreut, richten wir uns, ob wir es wollen oder nicht, nach den Gewohnheiten und Sitten und Gesetzen von Menschen, die uns verachten; und dennoch gelingt es uns, allen Hindernissen zum Trotz etwas von unserem eigenen Wesen zu bewahren, ja sogar etwas daraus zu schaffen. Welche Rasse in Amerika oder sonst wo hatte etwas Besseres geschaffen als die Spirituals?, sagte sie sich stolz. Und doch waren es die Werke von unwissenden Sklaven, die sich unter der Peitsche duckten. Unbekannte schwarze Barden, hatte James Weldon Johnson sie so schön genannt …
Als sie wieder in die Wohnung kam, kniete Olive am Boden und wischte Sahne auf.
»Warum«, stöhnte Olive, »ist es nicht möglich, eine Kühlschranktür zu öffnen, ohne dass etwas herausfällt?«
»Kann ich dir behilflich sein, Ollie?«
»Na ja, Mary, du könntest bitte mal nachschauen, ob meine Muffins im Ofen schon fertig sind.«
Mary erfüllte den Wunsch und ging dann in ihr Zimmer, zog die nassen Kleider aus, wusch sich und rieb sich kräftig ab, zog einen Schlafrock an und war zum Essen bereit.
Kaum hatten sie sich gesetzt, fing Olive an zu schwatzen.
»Ich war heute Nachmittag bei George Lister, um einen Termin zu machen. Du kannst mir glauben, der Scheich ist beliebt. Liegt es daran, dass er ein guter Zahnarzt ist oder weil er gut aussieht? Das Wartezimmer war gesteckt voll. Wie am Sonntagmorgen beim Gottesdienst der abyssinischen Baptisten.«
»Wie geht’s Lenore?«
»Ganz gut, sagt George, und natürlich behauptet er, dass das Baby süß ist.«
»Wir sollten sie besuchen.«
»Hm …« Olive hatte den Mund voll mit Backhuhn. »Howard hat einen Prozess an Land gezogen.«
»Nein! Ich bin so froh, Ollie!«
»Ja, er verteidigt einen armen alten Mann gegen seinen Vermieter.
Er will das Mietpreisrecht einfordern. Natürlich«, fügte sie hinzu, »wird er keinen Cent dafür sehen.«
»Armer Howard! Er hat es auch nicht leicht.«
»Das kann man wohl sagen! Aber er hat Ausdauer. Manchmal frage ich mich, wie er das aushält.«
»Der Anfang ist immer schwer. Ärzte und Rechtsanwälte können keine Werbung machen, das sieht unprofessionell aus.«
»Schon wahr, aber sieh dir mal die Praxis von George an.«
»Nun, es gibt nicht so viele gute Zahnärzte.«
»Jedenfalls nicht viele, die so gut aussehen.«
Sie saßen eine Weile schweigend da.
»Wie hast du das von Howard gehört?«, erkundigte sich Mary.
»Er hat mich angerufen …« Mary fiel ein merkwürdiger Ton in Olives Stimme auf. »Ich habe Sergia Sawyer in der Praxis von George getroffen.«
»Da hast du sicher viel Klatsch gehört.«
»Sie redete so schnell, wie ihre Zunge sich bewegen konnte. Buda Green wird diesen Mr Eddie heiraten.«
»Weiß er denn nicht, dass sie …«
»Nein, und niemand wird es ihm sagen. Schon lustig«, fuhr Olive fort und kippte Soße über ihre Stampfkartoffeln, »wie gern wir die Ofays zum Narren halten. Natürlich kann man von den Baumwollpflückern im Süden nichts anderes erwarten, sie haben jahrhundertelang unter Betrug und
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