Nigger Heaven - Roman
die Ursache sein mochte, Mary war klar, dass sie in dieser Beziehung anders war als die meisten Frauen, die sie kannte.
Sie hatte schwarzes Blut in sich, warm und leidenschaftlich ernst; ihren Geschmack und ihre Vorurteile teilte sie mit der Rasse, in die sie hineingeboren worden war. Sie war davon überzeugt, zu ebenso großer und leidenschaftlicher Liebe fähig zu sein, aber es blieb die Tatsache, dass sie einfach wählerischer war. Die anderen waren sicher anständig genug; sie gingen bei Liebeleien niemals zu weit. Andererseits hatten sie nichts gegen einen Kuss im Dunkeln einzuwenden. Ein beiläufiger Kuss dieser Art war für Mary eine widerwärtige Vorstellung. Sie wünschte sich einen Kuss in vollem Tageslicht und zwar mit dem richtigen Mann, und Mr Richtig war noch nicht aufgetaucht. Als sie jetzt an Byron Kasson dachte, zitterte sie, weil ihr langsam klar wurde, welches Geständnis sie da gerade aus ihrem tiefsten Inneren hervorholte. Sie war darüber verblüfft, wie sehr es sie freuen würde, ihn wiederzusehen. In ihrem Brief an ihre Mutter erwähnte sie Byron Kasson nicht, und es war ihr klar, dass sie dazu auch nicht in der Lage sein würde.
Es war Mitte September, der Himmel war bewölkt, und es nieselte. Olive war noch nicht aus ihrem Büro zurückgekehrt. Mary fand, dass ein Spaziergang gut zu ihrer Stimmung passen würde. Sie zog eine blaue Wolljacke und einen Regenmantel über ihr Kleid, setzte sich eine Mütze auf und machte sich auf den Weg. Wind war aufgekommen, und der Regen wurde stärker. Regentropfen schlugen gegen ihre Wangen und befeuchteten ihr Haar und ihre Knöchel. Sie fühlte sich kerngesund und war dankbar für die Aufmerksamkeit, die ihr die Elemente zuteilwerden ließen.
Es war, dachte sie bei sich, eine angenehme Woche gewesen. Ihre Hauptbeschäftigung hatte darin bestanden, aus Privatsammlungen primitive Negerskulpturen auszuwählen, und sie war dabei erstaunlich erfolgreich gewesen – sie hatte Glück gehabt, besonders exquisite Exemplare zu finden, die die schöpferische Kraft verschiedener Stämme aus verschiedenen Gegenden Afrikas zum Ausdruck brachten. Hinzu kam, dass einige dabei mit ziemlicher Berechtigung für sehr frühe Stücke gehalten werden konnten. Ein wundersam schöner Kopf sollte im zehnten Jahrhundert oder sogar noch früher entstanden sein, während ein Kasten, dessen Proportion und Verzierungen ganz hinreißend waren, dem vierzehnten Jahrhundert zugeschrieben wurde. Mary begann zu verstehen, wie alte Arbeiten sich anfühlten, die weiche, glatte Konsistenz des Holzes, die, wie beim besten chinesischen Porzellan, ganz anders war als bei späteren, irgendwie gröberen Arbeiten. Sie wusste jetzt auch die scheinbar primitiveren Arbeiten einzuordnen. Sie waren von der Konzeption her schöner, weil authentischer als die späteren, ausgefeilteren Ornamente, die unter portugiesischem Einfluss entstanden waren … Sie war auf ein oder zwei Dinnerpartys gewesen; sie erinnerte sich mit besonderem Vergnügen an den Abend bei den Underwoods, wo sie den neuen Sekretär des haitianischen Konsuls kennengelernt hatte. Er sprach nur französisch, und sie freute sich, diese Sprache wieder einmal mit einem jungen Mann zu erproben, der, vielleicht weil er ein so offensichtliches Interesse an ihr zeigte, dabei mehr Geduld aufbrachte. Es war auch interessant, jemanden zu treffen, der sehr viel über Cocteau, Morand und Proust und ihre besondere Stellung in der französischen Literatur wusste. René Maran, den Autor von Batouala hatte er sogar persönlich gekannt … Mit Olive und Howard hatte sie im Guild Theatre Shaws Arms and the Man gesehen, und an einem anderen Abend war sie an einer Party gewesen, die ein paar bedürftige Freundinnen gegeben hatten, um Geld für die Miete aufzutreiben. Sie hatte fünfzig Cent beigesteuert, und später landete als Dank dafür eine volle Schale mit Gin-and-Orange auf einem ihrer Lieblingskleider. Der Fleck ließ sich am nächsten Tag nur teilweise entfernen. Der ungeschickte junge Mann, der für diese Katastrophe verantwortlich gewesen war, schien den Verlust des Gins mehr bedauert zu haben als das ruinierte Kleid, denn seine Tölpelhaftigkeit hatte dem Ginvorrat ein Ende bereitet. Ansonsten war es ein sehr fröhlicher Abend gewesen. Sie hatte bis um zwei Uhr morgens getanzt. Fast alle tanzten jede Nacht. Warum nur?, fragte sich Mary. Wollen wir vergessen?
Sie erinnerte sich an die Geschichte einer Schwarzen namens Melanctha in Gertrude Steins
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