Night Academy 2
Esther. Nicht du. Du bist unglücklich wegen Trevor, deshalb bist du durch den Wind. Nächste Woche sieht die Welt schon wieder anders aus, ganz bestimmt.«
»Du hast gut reden«, sagte Esther, vergrub die Hände tief in den Taschen und setzte sich wieder in Bewegung. Hennie und ich eilten ihr hinterher. »Du hast einen tollen Freund und Dancia auch. Ich habe gar nichts, außer dieser unheimlichen Fähigkeit, Leute nachzumachen. In meiner Schauspielklasse sagen alle, was für ein unglaubliches Talent ich hätte und dass ich ein Genie sei, aber dann will keiner was mit mir zu tun haben. Ich fühle mich wie ein Freak.«
Mir waren ihre Worte schmerzlich vertraut. Wie oft hatte ich das in den letzten Jahren von mir selbst gedacht? Ich legte ihr die Hand auf die Schulter, damit sie stehen blieb. »Du bist kein Freak. Deine Schauspielkunst ist eine Gabe, und sie gehört zu dir.«
»Das stimmt«, klinkte sich Hennie ein. »Du fühlst dich so in andere Menschen ein, dass du ihr Verhalten imitieren kannst. Viele würden dich um diese Fähigkeit beneiden.«
Esthers Kinn zitterte. »Meinetwegen können sie diese Gabe geschenkt haben. Ich will nicht immer auffallen. Mein Lehrer treibt mich an, mich noch tiefer in die Charaktere zu versenken, und davon wird es nur noch schlimmer. Mit jedem Tag habe ich weniger Lust auf meine Schwerpunktfächer. Sobald ich mich mal entspanne, kommt gleich wieder die nächste ›Herausforderung‹, und schon darf ich mich wieder in jemand Neues verwandeln. Ich wünschte, die würden mich in Frieden lassen, damit ich mal normal sein kann.«
Zum Glück reagierte Hennie sofort, während ich mir unentwegt auf die Zunge biss. Ich brannte darauf, Esther die Wahrheit sagen, über ihre Gabe und die Art und Weise, wie ihre Lehrer sie zu fördern versuchten, obgleich es ihr so viel Leid brachte. Und ich ließ zu, dass sie litt, genau wie Cam mich im letzten Halbjahr hatte leiden lassen.
Aber ich durfte ihr ja nicht die Wahrheit sagen. Ich durfte ihr gar nichts sagen.
»Esther, hier ist doch niemand normal«, sagte Hennie. »Die Leute halten mich für gestört, weil ich so schnell Sprachen lerne. Neulich hat An Mandarin gesprochen, und ich habe alles verstanden. Dabei habe ich doch erst vor ein paar Monaten mit dem Unterricht begonnen! Meine Lehrer reden andauernd in unbekannten Sprachen mit mir, und ich soll dann herausbekommen, was sie gesagt haben. Oft gelingt es mir sogar. Wenn du ein Freak bist, dann bin ich auch einer.«
Eigentlich hätte ich es mir ja denken können, aber Hennies Enthüllungen schockierten mich gleichermaßen. Auch sie wurde gehörig unter Druck gesetzt. War Hennie bereits ein dritter Grad? Ob Cam ihre Gabe wohl schon spüren konnte, wenn er den Gang entlangkam?
»Wenigstens ist deine Begabung zu was nütze«, sagte Esther. »Ich kann nur so tun, als wäre ich jemand, der ich nicht bin.«
Hennies Stimme bekam einen sanften Klang. »Aber wir wissen, wer du bist. Du bist Esther Racowitz. Alle lieben dich, weil du so witzig und charmant bist und man mit dir toll reden kann. Wir sind deine besten Freundinnen, und wir glauben an dich, auch wenn du es selbst im Moment nicht kannst.«
»Was soll’s.« Esther strich sich die Locken hinter die Ohren. »Ich habe jetzt Englisch. Bis nachher.« Sie stolzierte davon, ohne von den interessierten Blicken, die ihr folgten, Notiz zu nehmen.
»War sie schon das ganze Wochenende so drauf?«, fragte ich Hennie.
»Nicht ganz so schlimm.« Als Esther außer Sicht war, flüsterte Hennie: »Irgendwie schon seltsam, findest du nicht? Ich meine, wie sie sich verändert, wenn sie jemand anderen spielt.«
Da ich weder lügen noch Esthers Problem herunterspielen wollte, wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Ich entschied mich für ein Ablenkungsmanöver. Zu meiner Erleichterung kam uns Barrett mit einer Gruppe Zwölftklässler entgegen. Mit einer stummen Entschuldigung zog ich im Geist an seinem Fuß. Barrett schwang das Bein wie ein Tänzer aus A Chorus Line . Diesen Spaß hatte ich mir schon öfter mit ihm erlaubt, also kam er sicher darauf, dass ich dahintersteckte. Die Zwölftklässler grölten vor Lachen. Barrett sah sich hektisch um und zog eine Grimasse, als er mich im Flur entdeckte.
»D.! Wie schön, dich zu sehen«, rief er. »Hoffentlich hast du deine Shorts dabei. Heute Nachmittag soll es ziemlich warm werden.«
Unter meiner Schuhsohle prickelte es heiß. Ich lächelte und ließ mir nichts anmerken. Tara gab mir im Vorbeigehen
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