Night Academy 2
die Richtung abgab.
Falls Molly wirklich dort steckte, musste sie sich hinter der Zeder verborgen haben, denn die Geschosse segelten durch die Luft, ohne auf Widerstand zu treffen. Offenbar waren wir aber nahe dran, denn wir hörten das Rascheln niedergetretener Blätter. Xavier zielte erneut, diesmal in unmittelbare Nähe des Stammes. Ein Zweig bewegte sich, ein Ast knackte.
»Sie flüchtet«, raunte Xavier. »Ihre Abdrücke kann ich zwar nicht sehen, aber die Spuren, die sie an den Pflanzen hinterlässt. Beim nächsten Mal habe ich sie.«
Wir warteten. Mein Herz schlug wie wild. Dann murmelte Xavier: »Hab dich!« Er zielte auf Brusthöhe, wo er Mollys Strike Zone vermutete. Diesmal vernahm ich ein Stöhnen, sah die geisterhaften Umrisse eines Menschen, dessen eine Hand zuckte. Molly huschte von Baum zu Baum. Jedes Mal, wenn sie für einen Augenblick sichtbar wurde, schoss Xavier auf sie, traf jedoch nie.
»Jetzt bin ich dran«, sagte ich.
Ich fixierte Molly durch das Visier. Bevor ich meine Gabe einsetzte, musste ich sie gut im Blick haben. Wie unter Stroboskoplicht blitzten ihre Umrisse immer wieder kurz auf, doch das reichte mir. Sobald ich die auf sie wirkenden Gravitationskräfte ausgelotet hatte, flog sie meterhoch durch die Luft. Der wieder vollständig sichtbaren Molly stand die Panik ins Gesicht geschrieben.
Anerkennend sah Xavier mich an. Mit der Hand fuhr er sich durchs kurze Haar. »Alter«, flüsterte er. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so was kannst.«
Behutsam hob ich Molly noch höher. Sie schoss auf uns, doch vor lauter Zittern nur kreuz und quer daneben. Ich schickte sie zur alten Zeder, hinter der sie sich eben noch versteckt hatte. Einen zappelnden Menschen vertikal zu verschieben, stellte meine Kräfte auf eine harte Probe, aber schließlich gelang es mir doch. Molly hielt die Hände vors Gesicht, als ich sie durch die ausladenden Äste manövrierte. Dann ließ ich sie ungefähr einen Meter fallen. Vor Schreck schrie sie auf, die Waffe fiel aus ihren Händen. Etwa fünf Meter über dem Boden bekam Molly einen Ast zu fassen, zog sich hinauf und blieb sitzen. Zufrieden drehte ich mich zu Xavier um.
»Und jetzt zurück zu Mr Fritz’ Spur«, sagte ich.
Xavier und ich setzten uns wieder in Trab. Ich hielt den Arm an den Körper gepresst, denn von der Erschütterung der Tritte wurde mir regelrecht übel vor Schmerz. Zielsicher verfolgte Xavier die Spur. Sobald ich ein Geräusch vernahm oder irgendetwas zu sehen glaubte, stieß ich ihn an, und wir gingen hinter ein paar Bäumen oder einem Baumstumpf in Deckung. Durch den Treffer an meiner Schulter war das Risiko gestiegen, und meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ständig drehte ich mich um und erwartete jeden Moment, Alisha oder Cam vor mir auftauchen zu sehen.
Die nächste Viertelstunde verging ohne weitere Zwischenfälle, nur hin und wieder gerieten wir auf einen falschen Pfad, stießen jedoch schließlich auf eine Stelle unter einem großen Farn, an der kürzlich gegraben worden war. Ich hielt Wache, während Xavier die Erde wegschaufelte. Mit einem freudigen Aufschrei fand er den schlanken Glaszylinder.
Er hielt ihn mir hin, doch ich schob ihn beiseite. »Verstau das Ding, und nichts wie weg«, sagte ich.
»Wohin? Zurück zur Hütte?«
Ich zögerte. »Nicht sofort. Ich will nicht ein paar Schritte vor dem Ziel abgefangen werden. Vielleicht sollten wir erst zum Basislager zurück und nach Anna Ausschau halten.« Unsicher zog ich meinen Kompass hervor. »Hmm, also ich glaube … wir müssen nach Westen.«
»Ich kann uns zurückführen«, sagte Xavier. »Weit ist es nicht, aber ich bin echt fertig. Eins sag ich dir: Wenn wir damit durch sind, laufe ich einen ganzen Monat lang nicht mehr.«
Das verkündete er mit einer solchen Grabesmiene, dass ich unwillkürlich lachen musste. Doch als im nächsten Moment Farbgeschosse auf uns niederhagelten, wurde ich schlagartig wieder ernst. »Dann mal los, du Sprintgott«, sagte ich. »Bringen wir es hinter uns.«
Wir liefen in Richtung Basislager. Wegen meiner schmerzenden Schulter und der zunehmenden Übelkeit war ich langsam und ungeschickt, und Xavier japste schon nach ein paar Schritten nach Luft. Eigentlich hätten wir nicht weiter überrascht sein dürfen, als Alisha neben uns auftauchte. Geschickt bewegte sie sich durchs Dickicht. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, mein Gewehr vom Rücken zu nehmen. Mein Arm kribbelte fürchterlich, und mir war klar, dass ich damit nichts
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