Night World - Gefährten des Zwielichts - Smith, L: Night World - Gefährten des Zwielichts - Night World - Soulmate
ihr, noch leiser, als sie gesprochen hatte, denn er benutzte seine Stimmbänder überhaupt nicht. Seine Stimme war telepathisch. Und du verdienst einen langen Urlaub. Meine Limo steht vor dem Touristenhotel in Clearwater; fahr damit zum Flughafen in Billings.
»Aber – Sie haben doch nicht etwa vor, allein hierzubleiben, oder? Sie brauchen Verstärkung, Sir. Falls sie kommt …«
Ich kann mich um alles kümmern. Ich habe etwas mitgebracht, um Hannah zu beschützen. Außerdem wird sie nichts tun, bis sie mit mir gesprochen hat.
»Aber …«
Lupe, geh. Sein Ton war sanft, aber es war unverkennbar nicht länger das Drängen eines Freundes. Es war der Befehl ihres Lehensfürsten der Nachtwelt, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte. Komisch, dachte Thierry, dass man nie begriff, wie sehr man an Gehorsam gewöhnt war, bis jemand einem trotzte. Jetzt wandte er sich von Lupe ab und blickte wieder durch die Ritzen des mit Brettern vernagelten Fensters.
Und vergaß prompt, dass Lupe überhaupt existierte. Das Mädchen auf der Couch hatte sich umgedreht. Er konnte ihr Gesicht sehen.
Ein Schock durchzuckte ihn.
Er hatte gewusst, dass sie es war – aber er hatte nicht gewusst, dass sie solch große Ähnlichkeit mit ihr haben
würde. Sie sah aus, wie beim ersten Mal, in ihrem ersten Leben, dem ersten Mal, als er sie gesehen hatte. Jenes Gesicht hatte er stets für ihr wahres gehalten, und obwohl ihm im Laufe der Jahre verschiedene Annäherungen daran begegnet waren, hatte er dieses Gesicht in dieser Form nie wiedergesehen. Bis jetzt.
Dies war genau das Antlitz des Mädchens, in das er sich verliebt hatte.
Das gleiche lange, glatte weizenblonde Haar, das wie Seide in verschiedenen Schattierungen glänzte und sich über die Schultern ergoss. Die gleichen weit auseinander stehenden grauen Augen, die voller Licht zu sein schienen. Der gleiche ruhige Gesichtsausdruck, der gleiche zarte Mund mit der Oberlippe, die sich ein wenig in die Unterlippe schob und etwas unbeabsichtigt Sinnliches verlieh. Der gleiche feine Knochenbau, die hohen Wangenknochen und der anmutige Schwung des Kinns – der Traum eines jeden Bildhauers.
Das Einzige, was anders war, war das Muttermal.
Das psychische Brandzeichen.
Es hatte die Farbe von gewässertem Wein, den man ins Licht hielt, von Wassermeloneneis, von rosafarbenem Turmalin, dem hellsten Edelstein. Es war das zarteste Rosé einer Rose. Wie ein einziges großes Blütenblatt, das schräg unter ihrem Wangenknochen verlief. Als habe sie für einen Moment eine Rose an ihre Wange gedrückt und die Rose ihren Abdruck auf ihrem Fleisch hinterlassen.
Für Thierry war das Muttermal wunderschön, denn es war ein Teil von ihr. Sie hatte es in jedem Leben nach ihrer ersten Existenz getragen. Aber gleichzeitig schnürte der bloße Anblick des Mals ihm die Kehle zu, und seine Fäuste ballten sich in hilfloser Trauer und Zorn – Zorn auf sich selbst. Das Mal war seine Schande, seine Strafe. Und seine Buße war es, über die Jahre hinweg zu beobachten, wie sie es in ihrer Unschuld trug.
Er hätte hier und jetzt sein Blut auf der trockenen Erde von Montana vergossen, hätte er das Mal wegnehmen können. Aber nichts in der Nachtwelt oder der menschlichen Welt vermochte das – zumindest nichts, das er in ungezählten Jahren des Suchens gefunden hätte.
Oh Göttin, er liebte sie. Er hatte sich so lange nicht gestattet, es zu fühlen – weil das Gefühl ihn wahnsinnig machte, während er fern von ihr war. Aber jetzt überkam es ihn in einer Flut, der er nicht hätte trotzen können, selbst wenn er es versucht hätte. Es ließ sein Herz hämmern und seinen Körper erbeben. Ihr Anblick, wie sie warm und lebendig dort lag, nur von einigen dünnen Brettern und einem ebenso dünnen menschlichen Mann von ihm getrennt …
Er wollte sie. Er wollte die Bretter wegreißen, durch das Fenster treten, den rothaarigen Mann beiseiteschieben und sie in die Arme nehmen. Er wollte sie in die Nacht davontragen, wollte sie dicht an sein Herz drücken, wollte sie an irgendeinen geheimen Ort bringen,
wo niemand sie jemals finden konnte, um ihr weh zu tun.
Er tat es nicht. Er wusste … aus Erfahrung, dass es nicht funktionierte. Er hatte es ein- oder zweimal getan und er hatte dafür bezahlt. Sie hatte ihn gehasst, bevor sie gestorben war.
Dieses Risiko würde er nie wieder eingehen.
Und so konnte Thierry jetzt, an diesem Frühlingsabend in Montana in den Vereinigten Staaten von Amerika, nicht mehr tun, als vor
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