Night World - Retter der Nacht
hielt es einfach nicht mehr aus. Sie konnte den Schmerz ihrer Mutter spüren. Buchstäblich. Er kam wie in Wellen, die durch ihren Kreislauf zu fließen schienen. Ihr wurde schwindlig. Es ist dieses Blut, dachte sie. Es bewirkt etwas in mir, verändert mich.
Sie umarmte ihre Mutter. »Ich habe keine Angst, Mom«, sagte sie leise gegen ihre Schulter gelehnt. »Ich kann es dir nicht erklären, aber ich habe keine Angst.
Und ich möchte nicht, dass du meinetwegen unglücklich bist.«
Ihre Mutter drückte sie ganz fest an sich, als hätte sie Angst, der Tod könnte ihr Poppy jeden Moment aus den Armen reißen. Sie weinte.
Poppy weinte auch. Echte Tränen, denn selbst wenn sie nicht richtig starb, würde sie doch so viel verlieren. Ihr altes Leben, ihre Familie, alles, was ihr vertraut war. Es fühlte sich gut an, deswegen zu weinen; es war etwas, das sie tun musste. Aber als die Tränen versiegt waren, wagte sie einen zweiten Versuch.
»Ich möchte nur eines, nämlich dass du weder unglücklich bist noch dir zu viele Sorgen machst.« Sie schaute zu ihrer Mutter hoch. »Könntest du das versuchen? Mir zuliebe?«
Ich höre mich an wie eine Heilige, dachte sie. Sankt Poppy. Und die Wahrheit ist, wenn ich wirklich sterben müsste, würde ich die ganze Zeit schreien und um mich schlagen.
Trotzdem gelang es ihr, ihre Mutter zu trösten, die mit verweinten Augen, aber auch ein wenig stolz ein Stückchen von ihr abrückte. »Du bist wirklich etwas ganz Besonderes, Püppi«, war alles, was sie sagte, aber ihre Lippen zitterten.
Sankt Poppy schaute schrecklich verlegen zur Seite - bis sie ein weiterer Anfall von Schwindel rettete. Sie ließ zu, dass ihre Mutter ihr wieder ins Bett half.
Und da fand sie endlich eine Möglichkeit, die Frage zu stellen, die sie unbedingt stellen musste.
»Mom«, begann sie langsam. »Was wäre, wenn es für mich irgendwo Heilung gäbe, zum Beispiel in einem anderen Land oder so, und ich dort hingehen und wieder gesund werden könnte? Aber man würde mich nicht wieder zurückkommen lassen. Du würdest wissen, dass es mir gut geht, aber du könntest mich nie wieder sehen.« Sie schaute ihre Mutter eindringlich an. »Würdest du wollen, dass ich es tue?«
Die Antwort ihrer Mutter kam prompt. »Auch wenn du auf den Mond fliegen müsstest, Liebling, ich würde wollen, dass du wieder gesund wirst. Solange du nur glücklich werden könntest.« Sie musste einen Moment innehalten, dann fuhr sie gefasster fort. »Aber, Schatz, einen solchen Ort gibt es nicht. Ich wünschte, es wäre anders.«
»Ich weiß.« Poppy tätschelte zärtlich ihren Arm. »Ich hab ja nur gefragt. Ich liebe dich, Mom.«
Später an diesem Morgen kamen Dr. Franklin und Dr. Loftus ins Zimmer. Die Visite war gar nicht so schlimm, wie Poppy es sich vorgestellt hatte. Aber sie fühlte sich wie eine Schwindlerin, als die beiden Ärzte über ihre ›tapfere Haltung‹ staunten. Sie redeten davon, ihr die Zeit so schön wie möglich zu machen, darüber, dass keine zwei Krebsfälle gleich verlaufen, und über Patienten, die gegen alle Erwartungen wieder gesund geworden
waren. Die heilige Poppy wand sich innerlich und nickte - bis sie noch mehr Untersuchungen erwähnten.
»Also, wir würden gern einige zusätzliche Tests durchführen …«, begann Dr. Loftus.
»Sie wollen mir Nadeln und Schläuche in die Venen stecken«, entfuhr es Poppy, bevor sie es verhindern konnte.
Alle waren überrascht, bis Dr. Loftus etwas traurig lächelte. »Hört sich ganz so an, als hättest du dich bereits informiert.«
»Nein. Ich - ich hab nur irgendwo so was aufgeschnappt.« Tatsächlich hatte sie die Bilder aus Dr. Loftus’ Verstand empfangen. »Aber ich brauche doch gar keine Untersuchungen mehr, oder? Sie wissen doch schon, was ich habe. Und diese Tests werden wehtun.«
»Poppy«, sagte ihre Mutter sanft. Aber Dr. Loftus antwortete bereits ruhig: »Nun, manchmal sind noch mehr Untersuchungen nötig, um die Diagnose zu bestätigen. In deinem Fall jedoch - nein, Poppy. Wir brauchen sie im Grunde nicht mehr. Wir sind bereits sicher.«
»Dann sehe ich nicht ein, warum ich mich quälen lassen soll. Ich möchte lieber nach Hause«, sagte Poppy einfach.
Die Ärzte sahen erst einander an, dann Poppys Mutter. Dann gingen die drei auf den Flur hinaus, um sich zu beraten.
Als sie zurückkamen, wusste Poppy, dass sie gewonnen hatte.
»Du darfst nach Hause, Poppy«, sagte Dr. Franklin leise. »Zumindest so lange, bis du keine weiteren Symptome
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