Night World - Retter der Nacht
so böse auf ihn wurdest. Stimmt das?«
Poppy hob die Augenbrauen. »Ich bin böse auf ihn«, stimmte sie zu, als sei das der einzige Teil der Frage, den sie verarbeitet hatte. »Und weißt du, warum ich dich mag? Weil du ihn immer gehasst hast. Jetzt hassen wir ihn beide.«
Phil dachte einen Moment nach. Dann wählte er seine Worte vorsichtig. »Okay. Aber als du noch nicht so wütend auf ihn warst, wolltest du, dass er dich zu dem macht, was er ist?«
Plötzlich zeigte sich ein Schimmer des Verstehens in Poppys Augen. »Ich wollte nur nicht sterben«, sagte sie leise. »Ich hatte solche Angst und ich wollte leben. Wenn die Ärzte eine Behandlung für mich gefunden hätten, hätte ich alles auf mich genommen. Aber sie sind machtlos.« Sie saß jetzt aufrecht und starrte ins Leere, als würde sie dort etwas Schreckliches sehen. »Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, wenn man weiß, dass man sterben muss«, flüsterte sie.
Eiskalte Schauder überliefen Phillip. Nein, er hatte keine Ahnung, aber er konnte sich jetzt lebhaft ausmalen, wie es für ihn sein würde, nachdem Poppy gestorben war. Wie leer die Welt ohne sie sein würde.
Eine lange Zeit saßen beide schweigend da.
Dann fiel Poppy wieder zurück in die Kissen. Phillip sah die blauen Schatten unter ihren Augen. Das Gespräch hatte sie erschöpft. »Ich glaube nicht, dass es etwas ausmacht«, sagte sie plötzlich erschreckend heiter. »Ich werde sowieso nicht sterben. Die Ärzte wissen eben nicht alles.«
Also so geht sie damit um, dachte Phil. Mit totaler Selbstverleugnung. Er hatte jedoch alle Informationen, die er brauchte. Jetzt sah er die Situation ganz klar. Und er wusste, was er zu tun hatte.
»Ich werde dich allein lassen, damit du dich ein bisschen ausruhen kannst«, sagte er und tätschelte ihre Hand. Sie fühlte sich sehr kalt und zerbrechlich an. Ihre Knochen waren klein und zart wie die eines Vogels. »Ich komme später noch mal vorbei.«
Er ging aus dem Haus, ohne jemandem zu sagen, wohin er wollte. Einmal auf der Straße, fuhr er sehr schnell. Er brauchte nur zehn Minuten, um das Appartementgebäude zu erreichen.
Er war noch nie in James’ Wohnung gewesen.
James begrüßte ihn sehr kalt an der Tür. »Was machst du hier?«
»Kann ich reinkommen? Ich muss dir etwas sagen.«
James trat mit ausdrucksloser Miene zurück, um ihn hereinzulassen. Die Wohnung war riesig, aber nur spärlich eingerichtet. Hohe Decken und große Zimmer zeugten davon, dass sie offenbar sehr teuer war. Dafür gab es allerdings nur sehr wenige Möbel. Im Wohnzimmer standen eine niedrige Couch, ein voll gepackter Schreibtisch mit einem Laptop drauf, und an den Wänden hingen ein paar bunte Ölgemälde. Umzugskisten voller Bücher und CDs standen in den Ecken. Eine Tür führte in ein karges Schlafzimmer.
»Was willst du?«
»Zuerst muss ich etwas erklären. Ich weiß, du kannst nichts dafür, dass du das bist, was du bist - aber ich kann auch nichts dafür, wie ich darüber fühle. Du kannst dich nicht ändern, und ich mich auch nicht. Ich möchte, dass das von Anfang an zwischen uns klar ist.«
James verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er wirkte argwöhnisch und herausfordernd zugleich. »Die Lektion kannst du dir sparen.«
»Ich möchte nur sichergehen, dass du es verstehst, okay?«
»Was willst du, Phil?«
Phil schluckte. Er brauchte zwei oder drei Anläufe, denn sein Stolz ließ ihn immer wieder innehalten. Endlich brachte er die Worte hervor. »Ich will, dass du meiner Schwester hilfst.«
KAPTITEL NEUN
Poppy wälzte sich im Bett hin und her.
Sie war unglücklich. Ihr war heiß und unter ihrer Haut schienen Schwärme von Insekten zu kribbeln. Die Depression kam mehr aus ihrem Körper als aus ihrem Verstand. Wenn sie nicht so schwach gewesen wäre, wäre sie aufgestanden und hätte versucht, sich die Traurigkeit aus dem Leib zu rennen. Aber ihre Muskeln waren schlaff wie gekochte Spaghetti und sie konnte nirgendwohin.
Ihr Verstand war wie benebelt. Sie versuchte gar nicht mehr zu denken. Am glücklichsten war sie, wenn sie schlief.
Aber heute Nacht konnte sie nicht schlafen. Sie schmeckte immer noch das Kirscheis in ihren Mundwinkeln. Am liebsten hätte sie den Geschmack weggespült, aber beim Gedanken an Wasser wurde ihr leicht übel.
Wasser ist nicht gut. Es ist nicht das, was ich brauche, dachte sie.
Poppy drehte sich auf den Bauch und presste ihr Gesicht in das Kissen. Sie wusste nicht, was sie brauchte, aber sie wusste, dass sie es nicht
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