Nightside 10 - Für eine Handvoll Pfund: Geschichten aus der Nightside Band 10 (German Edition)
Tag in der Nightside.
Als die Bahn mich nach Cheyne Walk gebracht hatte, war ich so entspannt, dass ich beinahe in meinem Sitz eingedöst wäre und mein Kopf hochruckte, als der Zug in den Bahnhof schoss. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Tunnel, wurde von der dahineilenden Masse mitgerissen und tauchte endlich auf der Straße auf. Die Luft war warm und stickig, und eine Windböe trieb Abfall mal hierhin und mal dorthin. Es gab keine Straßenkehrer in der Nightside, weil es immer irgendetwas in der Nähe gab, dass alles fraß. Ich schlenderte die Straße hinunter, wobei ich mir Zeit nahm, den Ort zu mustern. Der Lilith-Krieg war noch nicht lange her, aber man hätte nie gedacht, dass hier irgendwann einmal Kämpfe und Zerstörungen stattgefunden hatten. Alles war repariert, wieder aufgebaut, erneuert. Alte Geschäfte und Läden, die vom Feuer, von Explosionen und von dem Wahnsinn randalierender Mobs zerstört worden waren, waren durch leuchtende, neue Etablissements ersetzt worden – wie ein Rummel, der auf einem verwahrlosten Friedhof aufgebaut war.
Bars standen neben modernen Tanzpalästen, während hell erleuchtete Buchläden Bände voller vergessener Überlieferungen undverbotenem Wis sen anboten . Als Paperback undals Mängel exemplar. Es gab selbst einen dieser modernen Salons, in denen man sich die Seele massieren lassen konnte und die versprachen, das innere Ich beruhigen zu können, und ein Restaurant der Kette Strange Offerings, die sich auf Speisen aus anderen Welten und Dimensionen spezialisiert hatte. Für die Abenteuerlustigen gab es eine Zweigstelle von Baron Samedis Bide A Wee, wo man um des Kicks willen dafür bezahlen konnte, kurz besessen zu sein, und für die wirklich B ösen unter uns gab es das Traumreisebüro, wo Tränke des bewussten Träumens dem anspruchsvollen Kunden erlaubten, in die Traumzeit zu stolpern, um in den Träumen anderer zu baden.
Aber dennoch strömten die Touristen und die Kunden umher, deren Augen größer waren als ihre Brieftaschen, Jäger und Gejagte zugleich, verzweifelt bemüht, alles, was sie hatten, für alles auszugeben, was schlecht für sie war. Die Straße war voller Klänge, Gewühl und etwas, das wie ein Zauber war. Bonbonfarbene Neonschilder flammten auf wie Leuchtfeuer, und überall, wo man hinschaute, gab es Köder aller Art. Unter den Verdammten waren die Verdammten König – die Nightside tat, was sie am besten konnte.
Ich hielt auf der Hälfte der Straße an und versuchte, mich zu erinnern, wo genau ich Tommy Oblivion hatte zusammenbrechen sehen: erst unter einer einstürzenden Mauer, dann unter den kratzenden Händen eines wahnsinnigen Mobs. Ich hatte immer angenommen, er sei hier gestorben, weil ich an diesem Tag so viele andere hatte sterben sehen. Wie Schwester Morphium, den Engel der Obdachlosen. Sie war genau vor mir gestorben, und ich hatte nichts tun können, um ihr zu helfen. Es war Krieg gewesen. Ich hatte niemanden retten können . Ich konnte mich noch immer an die Leichen erinnern, die wie Abfall aufgestapelt waren, während das Blut so maßlos in die Rinnstein rann, dass die Gullys überflossen. Ich hörte noch immer die Schreie und die Bitten der Verwundeten und Sterbenden … sah noch immer den verwahrlosten Mob, der durch Schock und Entsetzen den Verstand verloren hatte und jeden zerriss, der ihm in den Weg kam. So viele Tote, und für keinen einzigen ein Denkmal. Noch nicht einmal eine Gedenktafel an der Wand.
Die Nightside schaute eben nicht zurück.
Ich holte Larry Oblivion schließlich am Ende der Stra ße ein. Er stand vor etwas, das einmal eines der neuen Unternehmen gewesen, aber jetzt nur noch eine rauchende Ruine mit eingefallenen, schwarzen Mauern war, die einen großer Höllenschlund in der Erde umgaben. Ein brutzelndes Neonschild war wie ein Technicolornagel halb in den Boden gerammt worden. Eine Gruppe interessierter Schaulustiger hielt vorsichtig taktvoll Abstand zu dem verheerten Gebiet. Oder womöglich zu dem finster dreinblickenden Larry Oblivion. Sie diskutierten frohgemut darüber, was wie warum passiert war und tauschten Theorien aus, wer der Nächste sein würde. Dann sahen sie mich kommen und wurden plötzlich ruhig. Nicht etwa, weil sie so beeindruckt waren, sondern vielmehr, weil sie nichts verpassen wollten. Jeder wusste über Larry und mich Bescheid. Die Nightside liebte es zu tratschen. Ich bedachte Larry mit meinem liebenswürdigsten Lächeln, als ich ihn erreichte, um alle zu ärgern.
„Hadleigh war
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