Nightside 9 - Wieder einmal Weltenbrand
kantiges Gesicht mit tiefen Falten, als hätte das Leben seine persönlichen Erfahrungen in ihn hineingeschnitzt. Er hat die ganze Zeit über gelächelt, ein breites, spöttisches Lächeln, als sei die ganze Welt verrückt und nur er wisse, weshalb. Seine Augen … sahen direkt durch mich hindurch. Als sei ich nur ein weiteres Hindernis auf seinem Pfad, etwas, das man aus dem Weg räumen oder über das man einfach hinweggehen muss. Ich habe den Großteil meines Lebens in der Nightside verbracht, habe mich mit Göttern, Ungeheuern und Schlimmeren angelegt und kann euch heute davon erzählen … ich habe noch nie etwas so Furchteinflößendes wie diesen Mann gesehen. So selbstbewusst, so eindringlich und so absolut zielgerichtet … er sah aus, als hätten ihm das Leben, der Tod oder Gott selbst jede menschliche Schwäche ausgebrannt.“
„Ich wusste gar nicht, dass du so eloquent sein kannst“, murmelte Walker.
„Tja nun“, sagte ich. „Zu welchen Höchstleistungen blankes Entsetzen doch inspiriert.“
„Wollt ihr einen Rückzieher machen?“, fragte Walker. „Beiseite treten und jemand anderen übernehmen lassen?“
„Nein“, sagte ich.
„Teufel auch, nein“, sagte Suzie.
Chandra grinste uns abermals von einem Ohr zum anderen an, und seine Augen glänzten glücklich. Ich begann langsam, mir Chandras wegen Sorgen zu machen.
Walker zog seine Taschenuhr hervor, drehte an dem Knöpfchen, und schon waren wir drei auf dem Weg. Der Übergang von einem Ort zum anderen war genau so unangenehm wie zuvor – Dunkelheit, vollständige Finsternis, aber dennoch hatte man ständig das Gefühl, dass da draußen irgendetwas in unserer Nähe lauerte. Etwas, das in der Dunkelheit eingekerkert gewesen war und nur auf seine Chance wartete. Vielleicht war es nur Einbildung, aber in der Nightside würde ich nicht darauf wetten. Wir drei erschienen ein Stück von dem Ort entfernt, an dem ich den Wanderer in meiner Vision gesehen hatte. Er war weg. Niemand in der betriebsamen Straße würdigte unser plötzliches Auftauchen auch nur eines Blickes. Die Gesichter der Leute um uns machten den Eindruck, als tauche hier so oft jemand plötzlich auf, dass es schon nicht mehr die letzte Mode war.
„Eine eindrucksvolle Art zu reisen“, sagte Chandra Singh, der rasch seinen Körper abklopfte, um sicherzustellen, dass auch alles an ihm sicher angekommen war.
„Sie haben nicht die geringste Ahnung“, sagte ich. „Wirklich.“
Wir standen auf einer der Haupteinkaufsstraßen, die im allgemeinen Volksmund die Transenmeile genannt wurde. Hier fand man die Art von Etablissements, wo nichts ein Preisschild trug, denn wenn man nach dem Preis fragte, konnte man es sich ohnedies nicht leisten. Die Neonschilder waren geschmackvoll und unaufdringlich, die Schaufenster Kunstwerke und man musste einen Termin ausmachen, damit das Verkaufspersonal wegen einem überhaupt die Nase rümpfte. Die Zeitanomalie hatte uns direkt vor einem der berühmtesten Läden abgesetzt. Das elegante Geschäftsschild verkündete einfach „Kostbare Erinnerungen“, vor dem einzigen Fenster waren Rollläden aus Stahl heruntergelassen und es gab keinerlei Hinweis darauf, was das Geschäft tatsächlich verkaufte. Auch hier galt: Entweder wusste man es oder man war am falschen Ort. Kostbare Erinnerungen lieferte seine exklusiven Produkte nur an Kunden, die eingeweiht waren. Ein exklusiver Laden, der exklusive Dienstleistungen für einen exklusiven Kundenstamm anbot. Ich hatte schon von diesem Geschäft und seinem Angebot gehört, da es zu meinem Beruf gehörte, solche Dinge zu wissen.
„Speicherkristalle“, sagte ich zu Suzie und Chandra. „Diese Typen können echte Erinnerungen aus der Perspektive ihrer Kunden auf einen Kristall prägen, der dann die Erfahrung in ihrer Gesamtheit wiedergeben kann. Eine sensorische Aufzeichnung einer beliebigen Erfahrung, die man so oft genießen kann, wie man will.“
„Was für Erinnerungen?“, wollte Chandra wissen. „Was für Erlebnisse?“
„Das weiß niemand“, sagte ich. „Außer den wenigen glücklichen Kunden. Die Zulieferer betreiben einen ziemlichen Aufwand, das Ganze streng geheim zu halten. Natürlich kursieren ein paar Vermutungen. Wichtige Ereignisse aus der Sicht des Protagonisten. Alle möglichen Arten von Sex, die man sich nur vorstellen kann, von und mit allen möglichen Leuten. Gourmetmahlzeiten, die die geschulten Geschmacksknospen eines wahren Genießers goutieren. Die seltensten Tröpfchen für
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