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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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verirrt. Sie stand senkrecht über der Kapelle, und als wir hineingingen, zeigte Elli nach oben und sagte zu Wally, die neben ihr ging: »Kiek mal, sieht aus wie Rotze.«
    Wir, das waren außer Reiner und mir und Wally und Elli die drei Skatspieler, deren Namen ich bei dieser Gelegenheit immer noch nicht erfuhr, und zwei alte Frauen, beide über achtzig, von denen Wally flüsternd behauptete: »Die sind immer hier, die lassen keene Beerdigung aus.« Worauf Elli zurückflüsterte: »Woher weeßt ’n dit? Oder biste ooch immer hier?« Und Wally: »Ick muss nich immer überall sein, ick weeß ooch ohne dass ick überall bin Bescheid.«
    Es hätte mich nicht gewundert, wenn die beiden sich zu streiten begonnen hätten, aber der Redner, ein routiniert munterer Fünfzigjähriger, der es gewohnt zu sein schien, mit nicht ganz einfachen Situationen umzugehen, wies uns in die vorderste Bankreihe. »Trödelt nich«, mahnte er, »die nächste Beerdigung will ooch noch stattfinden.«
    Ich saß zwischen Reiner, der, so stark wie er danach roch, möglicherweise eine ganze Rasierwasserflascheüber sich ausgegossen hatte, und Elli, die einen sehr kräftigen Gewürzmischungsdunst verströmte. Der Redner trat an sein Pult, aber das, was er zu sagen hatte, beschränkte sich auf eine knappe Begrüßung, der eine Art Entschuldigung folgte. »Die Gestaltung einer Beerdigung«, erklärte er, »is ja quasi immer auf Wunsch des nahesten Verwandten vom teuren Verstorbenen. Dieser Wunsch is mir ehrenvoller Auftrag, auch wenn nur ’n Lied gespielt wird. Aber immerhin is dieses Lied, verehrte Trauergemeinde, eines unsrer schönsten deutschen Volkslieder – man hört es immer wieder gern, würde ick mal behaupten –, und es is das Lieblingslied unsrer lieben Maria Nilowsky, geborene Serrini, der teuren Mutter von Herrn Reiner Nilowsky, die uns leider schon vor vierzehn Jahren verlassen hat. Ihr Geist, so der Wunsch von Herrn Reiner Nilowsky, soll über uns schweben und unter uns sein, während wir einträchtig und demütig ihrem Lied lauschen.«
    Mit dem letzten Wort betätigte er einen Plattenspieler, der in Reichweite stand, und es erklang, von einem vielstimmigen Chor laut und inbrünstig gesungen, »Am Brunnen vor dem Tore«. Als wäre der Chor aber noch nicht laut und inbrünstig und vielstimmig genug, begann Elli schon bei der zweiten Zeile mitzusingen. Nicht Wally oder Reiner erteilten ihr eine Mahnung, ruhig zu sein, sondern einer der Skatspieler, der neben ihr saß. »Halt’s Maul«, flüsterte er ihr drohend zu. »Sonst fliegste raus.«
    Elli schaute empört zu ihm, ging aber einen Kompromiss ein, indem sie nur noch leise mitsang. Was den Mann zumindest so weit beruhigte, dass er nichts mehr sagte.
    Am Brunnen vor dem Tore,
    Da steht ein Lindenbaum:
    Ich träumt’ in seinem Schatten
    So manchen süßen Traum.
    Ich schnitt in seine Rinde
    so manches liebe Wort;
    Es zog in Freud und Leide
    Zu ihm mich immer fort.
    Nilowsky hatte sich zu mir hinübergebeugt und flüsterte mir zu: »Dieses Lied, das hatte er gehasst. Das durfte sie nicht singen, Maria, meine Mutter. Angst hatte er vor dem Lied, der Feigling.«
    Ich musst’ auch heute wandern
    Vorbei in tiefer Nacht,
    Da hab ich noch im Dunkel
    Die Augen zugemacht.
    Nach der dritten Strophe setzte ein Violinenintermezzo ein. Und wieder war Nilowskys Mund an meinem Ohr, berührte es fast, und ich spürte seinen warmen Atem, während er mir schnell, so schnell es ging, zuflüsterte: »Muss es dir sagen. Weil du dichthalten kannst. Muss ich. Hatte mir Salzsäure besorgen lassen, von Roberto, in einem Fläschchen. Hab gewartet, in der Kneipe. Bis er mal pinkeln gehen würde. Wollte ihm die Salzsäure ins Bier kippen. Er guckte mich aber immer an. Gäste waren alle weg, und er guckte mich an. Und pinkeln ging er auch nicht. Und auf einmal sagte er: ›Ick bin zäh, mir kriegste nich einfach so weg.‹ Sagte er. Tränen in denAugen, die hatte er, Tränen, hatte ich noch nie bei ihm gesehen, noch nie. Und auf einmal tat er mir fast leid, tat er mir. Die Drecksau. Dann nahm er eine Flasche Meldekorn. Die trank er, auf ex. Die ganze Flasche, auf ex, Meldekorn. Stützte sich am Tresen. Grinste so seltsam. Hustete. Und wollte sich noch eine Zigarette anzünden, wollte er. Sackte zusammen. Gleich tot. Und ich mit dem Fläschchen, in der Hosentasche das Fläschchen. Elende Scheiße. Diese Drecksau. Sich selbst umgebracht. Weil er’s mir nicht gönnte. Ihn umzubringen. Niemandem erzählst du

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