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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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was sie denkt? Sie denkt, wenn sie so einen Kern verschluckt, denkt sie, kann ihr ein Kirschbaum aus dem Hintern wachsen, so was denkt sie.«
    »Woher willst du denn wissen«, fuhr Carola ihn an, »dass das nicht passieren kann?«
    »Wenn es passiert«, entgegnete Nilowsky, »kannst du’s mir ja mal zeigen, kannst du ja.«
    »Von wegen. So weit kommt’s noch.« Pikiert wie sie auf einmal war, schob Carola den Eisbecher weit von sich. Sie hatte allerdings kein Gramm Eis oder Sahne und auch nicht den kleinsten Rest einer Kirsche übrig gelassen.
    »Wenn wir verheiratet sind«, sagte Nilowsky, »hab ich ein Recht darauf, das zu sehen, hab ich, wenn wir verheiratet sind.«
    »Gar nichts hast du, gar nichts!« Sie schüttelte kurz und heftig den Kopf, sodass ihre langen, glatten Haare hin- und herflogen. »Und außerdem, da kannst du zehnmal Geburtstag haben, das erlaubt dir nicht, in dieser Art zu reden. Mit mir.« Sie stand so energisch auf, dass fast der Stuhl umkippte. »Habe die Ehre, meine Herren«, rief sie, betont förmlich, nickte erst mir, dann Nilowsky zu und verließ eilig das Café.
    Habe die Ehre, meine Herren – solch eine Verabschiedung hatte ich noch nie gehört. Ich fragte mich, ob sie nur dagegen war, dass er den Kirschbaum sieht, der ihr aus dem Hintern wachsen könnte, oder ob sie Nilowsky, der mit der Ehe offenbar solcherart Rechte verknüpfte, genau deshalb oder sogar grundsätzlich nicht heiraten wollte. Und außerdem, warum hatte Nilowsky nicht gesagt, dass er Geburtstag hat?
    »Sie ist nicht nur abergläubig«, erklärte er, »sondern auch altmodisch, das ist sie. Hast ja gehört, wie sie redet. Habe die Ehre, meine Herren. Und soll ich dir sagen, von wem sie das hat, das Abergläubige und wie sie redet?Das hat sie von meiner Oma. Meine Oma, die ist ihre Nachbarin, von der hat sie das.«
    Wieder klang es nachsichtig und liebevoll. »Weißt du«, fuhr er fort, »woran meine Oma zum Beispiel glaubt? Die glaubt daran, dass sich die Toten, nicht lange nachdem sie gestorben sind, dass die sich melden bei den Lebenden, bei bestimmten, ausgewählten Lebenden. Mit ihrem Karma melden die sich. Karma ist kein Wort von meiner Oma, Karma kommt aus Indien, haben mir die Mozambiquaner erzählt. Karma bedeutet, dass wir die Probleme, die wir selbst geschaffen haben, auflösen müssen, das bedeutet es. Jedenfalls mein Alter, mit seinem ekelhaften Karma, der hat sich gemeldet bei ihr, ausgerechnet der, eine Nacht nachdem er tot war, hat er sich schon gemeldet bei ihr. Sie hatte sich grade vom Bett in die Küche geschleppt, um ein Glas Wasser zu trinken. Da stand er in der Küche, hat ihr den Wasserhahn aufgedreht, und gesagt hat er: Nu kannste endlich sterben, aber mach mal hinne, du alte Hexe. Hat er gesagt. Mit seinem blöden Grinsen. Und war gleich wieder weg, der versoffene Drecksack. Das Wasser lief aus dem Wasserhahn, und meine Oma machte ihn zu, den Wasserhahn, denn der Durst war ihr vergangen. Und jetzt? Jetzt kann sie nicht sterben. Kann wieder nicht sterben. Bewegt sich kaum, ist müde und hat Schmerzen überall, aber kann immer noch nicht, immer noch nicht sterben kann sie.«
    Der Kellner, der uns die Eisbecher gebracht hatte, kam an unseren Tisch. »Na, Reiner, willste noch was?«
    »Danke«, antwortete Nilowsky, zog einen Zwanzigmarkschein aus der Hosentasche und reichte ihn dem Kellner. »Hier, stimmt so.«
    »Mensch, Reiner«, sagte der Kellner, »jetzt wo du Vollwaise bist, heb dir das Geld mal lieber auf und sei nicht immer so großzügig.«
    »Geld kommt und geht«, konterte Nilowsky und machte eine wegwerfende Handbewegung.
    Kurz darauf verließen wir das Café, und mir fiel auf, dass ich ihm noch nicht mal zum Geburtstag gratuliert hatte. »Du bist ab heute volljährig«, sagte ich, »das ist ja einen doppelten Glückwunsch wert.«
    Er blieb stehen. Schaute mich staunend an. »Wie du das formulierst«, sagte er, »doppelter Glückwunsch, richtig schön und poetisch, da muss ich dir ja glauben, so wie du das zum Ausdruck bringst, richtig schön, da musst du ja recht haben, absolut, großartig.«
    Bei so viel Lob – und dann noch von Nilowsky, der jetzt sein eigener Herr war – errötete ich. Aber das machte mich nicht etwa hilflos, nein, es tat mir gut. Ich hatte einen Freund, der sein eigener Herr war.

13
    Der Friedhof, auf dem Nilowskys Vater beigesetzt wurde, war über vier Kilometer vom Chemiewerk entfernt, dennoch hatte sich eine kleine, kompakte grünlich gelbe Wolke hierher

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