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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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sicher, ob er mir jemals verzeihen würde, dass ich einfach mitging.
    »Ich müsste eigentlich nach Hause«, sagte ich.
    »Papperlapapp, du kommst mit!«, erwiderte Carola.
    Wir liefen zum Bahndamm, und als wir dort ankamen, schaute ich auf meine Armbanduhr und sagte: »Gleich müsste der Zwölfsiebzehner kommen.«
    Kaum hatte ich das gesagt, fühlte ich mich wie ein Aufschneider. Dabei hatte ich die Zugzeiten nur auswendiggelernt, um Nilowsky zu demonstrieren, wie viel mir unsere Freundschaft bedeutete.
    »Jetzt bist du ja schon ein richtiger Reiner-Experte«, stellte Carola grinsend fest, während Nilowsky mit unbeweglichem Gesicht in die Richtung sah, aus der der Zwölfsiebzehner nun auf die Minute pünktlich kam. Er donnerte an uns vorbei, zerzauste uns die Haare. Nilowskys Gesicht blieb regungslos. »Reiner würde es auch nichts ausmachen«, rief mir Carola zu, »wenn der Zug nur drei Zentimeter an ihm vorbeirasen würde. Irre, was? Wenn im Zirkus Züge fahren würden, könnte er im Zirkus auftreten.«
    Nachdem der Zug nicht mehr zu sehen war, fragte Carola: »Seid ihr bereit? Kann ich anfangen?«
    »Natürlich«, antwortete Nilowsky, »deshalb sind wir ja hier.« Er setzte sich auf die Schiene, und Carola und ich nahmen ebenfalls Platz.
    »Eigentlich ging es sehr schnell«, fing Carola an. Ihre Stimme war für ihre Verhältnisse leise, strahlte Ehrfurcht aus und Wehmut. »Neben ihr saß ich, auf dem Kanapee, und sie riss sich die Fingernägel ein, bis ihre Fingerkuppen bluteten. Ich fragte sie: ›Soll ich deine Hände nehmen und streicheln?‹ Sie schüttelte nur den Kopf. Schüttelte immer heftiger den Kopf. Ich nahm sie in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: ›Reiner ist bald zurück von der Beerdigung.‹ Trotzdem hörte sie nicht auf mit dem Kopfschütteln. Und auf einmal begann auch ihre Nase zu bluten. Ich gab ihr mein Taschentuch. Sie warf es weit weg. Ich versuchte, ihr den Kopf in den Nacken zu legen. Sie wehrte sich und sagte: ›Das ist böses Blut, ist das. Raus muss das, das böse Blut. Immer raus, das böse Blut.‹ Ich holte ihr eine Schüssel, und sie ließ dasBlut in die Schüssel fließen. Als die Schüssel voll war, holte ich die nächste Schüssel und fragte: ›Ist das Blut immer noch böse, oder darf ich dir endlich helfen?‹ Sie antwortete: ›Immer noch böse, für immer böse, immer noch böse, für immer böse …‹ Sie hörte gar nicht mehr auf, und das Blut schoss im Rhythmus ihrer Worte aus der Nase. Ihre Haut wurde grau und leblos. Sie schloss die Augen. Faltete die Hände. Wie zum Gebet. Die Fingerkuppen bluteten. ›Immer noch böse, für immer böse, immer noch böse, für immer böse …‹ Ihr Kopf sank auf die Brust. Ich fühlte ihre Halsschlagader. Aber die schlug nicht mehr. Ich fühlte ihren Puls. Der schlug auch nicht mehr. Ihre Haut wurde kalt. Und kein Blut kam mehr, kein Tropfen. Aber nach wie vor hörte ich: ›Immer noch böse, für immer böse, immer noch böse, für immer böse …‹ Ich hörte und hörte es. Bis ich schrie: ›Hör auf! Hör auf!‹ Da war es still. Da erst war es still, endlich still.«
    Carola atmete tief ein und aus. Ich konnte ihr ansehen, wie schwer es ihr gefallen war, vom Sterben Carla Serrinis zu erzählen. »Darüber red ich nie mehr!«, verkündete sie. »Nie mehr!« Ein Lächeln kam auf ihr Gesicht. Ein schönes, offenes Lächeln, das ihr sogar etwas Frauliches gab. Trotzdem hätte ich sie immer noch nicht älter als dreizehn, höchstens vierzehn geschätzt.
    Nilowsky stand auf, ohne uns anzusehen. »Ich wünsche«, sagte er vor sich hin, »sie machen ihm die Hölle heiß, da oben, im Himmel oder sonst wo, das wünsche ich, glühend heiß. Dass er nie Ruhe hat und sein Karma immer mieser wird. Das mieseste Karma der Welt, das sich nie auflösen wird. Und dass er leiden muss, wie sie gelitten haben. Meine Oma, meine Mutter. Nie Ruhe.«
    Er ging die Böschung hinunter und wirkte so traurig und verzweifelt, dass ich am liebsten hinterhergerannt wäre und ihn in die Arme genommen hätte. Aber ich blieb sitzen, auf den Schienen, neben Carola.
    »Mann, oh Mann, oh Mann«, seufzte sie, »ich kann doch nichts dafür, dass er seinen Alten umgebracht hat und trotzdem unglücklich ist. Nur gut, dass er den Alten hat verbrennen lassen. Bei so viel Schnaps, wie die Leiche intus hatte, wäre die nie verwest. Und die Polizei, die hätte den Alten irgendwann ausgebuddelt und Spuren entdeckt, die Reiner als Täter überführt hätten. Komisch,

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