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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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davon, niemandem und niemals, niemals.«
    Das Violinenspiel war verklungen, und der Chor sang weiter. Elli sang wieder leise mit, während Wally und die beiden über achtzigjährigen Frauen heftig heulten. Die Skatspieler mussten sich Mühe geben, nicht mitzuheulen. Nilowsky starrte vor sich hin, mit schweißnassem Gesicht, die Hände ineinander gekrampft. Nickte ab und zu, als gäbe er damit seine Zustimmung zu dem Text des Liedes. Ich lauschte diesem Text, als würde Nilowsky später einmal, irgendwann, dessen Bedeutung von mir erläutert haben wollen.
    Und seine Zweige rauschten,
    Als riefen sie mir zu:
    Komm her zu mir, Geselle,
    Hier findst Du Deine Ruh!
    Die kalten Winde bliesen
    Mir grad in’s Angesicht;
    Der Hut flog mir vom Kopfe,
    Ich wendete mich nicht.
    Nun bin ich manche Stunde
    entfernt von jenem Ort,
    Und immer hör ich’s rauschen:
    Du fändest Ruhe dort.
    Der Redner schaltete den Plattenspieler aus, bat uns, zum feierlichen Angedenken an den Toten aufzustehen und ihm hinauszufolgen. Er nahm die Urne, die neben dem Pult stand, und wir folgten ihm auf den Friedhof. Wir gingen ein Stück, bis wir an der Urnenstelle waren, an der der Redner die Urne in ein Loch versenkte.
    Und immer hör ich’s rauschen: Du fändest Ruhe dort. Ich fragte mich, ob Nilowskys versoffener Vater nun seine Ruhe gefunden hat. Oder ob ihn der Geist von Maria Nilowsky, geborene Serrini, daran hindert. Und ob dieser Geist tatsächlich über uns schwebt, so wie Reiner sich das gewünscht hat. Jedenfalls war Nilowskys Vater allein in der Urnenstelle, und niemand würde sie wohl je mit ihm teilen.
    Nachdem er drei Hände voll Sand auf die Urne geworfen hatte, schaute Reiner wie in einem stillen Gebet zum Himmel hinauf. Die grünlich gelbe Wolke war verschwunden, und der Himmel war für den späten Herbst ungewöhnlich klar und blau.
    Plötzlich stand Carola hinter ihm. In einem kurzärmligen, weißen Kleid mit roten Punkten. Ein hellerTupfer unter uns dunkel Gekleideten. »Sie hat’s geschafft«, sagte sie mit ihrer quäkenden Stimme.
    Nilowsky blieb unverändert stehen, den Blick zum Himmel gerichtet. Dann schloss er die Augen und begann zu weinen. Und ich freute mich, dass er weinte, denn ich erinnerte mich, wie er mir am Bahndamm gesagt hatte, dass er das gar nicht mehr könne.

14
    Eine Woche später schon war die Beisetzung von Carla Serrini. Der Redner war diesmal regelrecht glücklich. Er hatte von Nilowsky offenbar ausreichend Informationen bekommen, um eine Rede zusammenbasteln zu können, die er mit viel Sympathie für die Verstorbene und stellenweise schwungvoll vortrug.
    Der Liebe wegen war Carla Serrini nach dem Ersten Weltkrieg aus Lecce, einer armen Stadt im Süden Italiens, vom Hacken des Stiefels, wie der Redner sagte, nach Berlin gekommen. Nach einigen Jahren und vielen Versuchen wurde sie von der Liebe ihres Lebens schwanger, doch kurz nach der Geburt der Tochter Maria Serrini starb die Liebe ihres Lebens, ein weitgereister Lokführer, bei einem Rangierunfall auf dem Wriezener Bahnhof. Carla Serrini blieb Witwe, und da sie sich selbst die deutsche Sprache durch Volkslieder beigebracht hatte, sang sie ihrer Tochter täglich ein paar Volkslieder vor, meist wehmütige, die ihr Tränen in die Augen trieben und die Stimme brüchig werden ließen. »Sah ein Knab ein Röslein stehen« oder »Der Mond ist aufgegangen« oder eben »Am Brunnen vor dem Tore«, das zum Lieblingslied der Tochter wurde.
    An dieser Stelle der Rede waren bereits alle in der Kapelle versammelten Frauen zu Tränen gerührt – mindestens dreißig oder sogar vierzig waren gekommen –,unter ihnen Wally und Elli, die Jüngsten in der Schar, und natürlich die beiden über achtzigjährigen Stammbesucherinnen. Sie alle hatten in den beiden vordersten Bankreihen Platz genommen. In der ersten Reihe, zwischen Wally und Elli, saßen Nilowsky und Carola. Carola diesmal in einem dunkelblauen Kleid, kurzärmlig und weiß gepunktet. Von den Skatspielern oder anderen Kneipengästen hingegen war niemand da. Dafür aber Roberto und die acht weiteren Mozambiquaner. Roberto hatte sich neben mich in die dritte Reihe gesetzt, und als der Redner nun erzählte, wie sehr Carla Serrini darunter gelitten hatte, dass ihre einzige Tochter Maria ausgerechnet an diesen Karl-Heinz Nilowsky hatte geraten müssen, fragte mich Roberto im Flüsterton: »Deine Mutter, wie geht ihr?«
    »Gut«, sagte ich, und Roberto prompt: »Schade, dass nicht hier.«
    Ich überlegte,

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