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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Schulz
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Erzählte sie mir. Und konnte wieder nicht sterben. Schmerzen hatte sie, überall, müde war sie, todmüde, aber konnte nicht sterben. ›Geh lieber‹, sagte sie zu mir, ›geh lieber wieder nach Haus, mein Junge, geh lieber.‹ – ›Und wenn er wiederkommt?‹, fragte ich. ›Soll ich nicht bei dir bleiben, falls er wiederkommt in deinen Träumen?‹ – ›Er kommt nicht im Traum‹, behauptete sie. ›Er war richtig hier. Und plötzlich weg. Und nun geh, mein Junge, geh!‹ Ich ging. Wieder. Erst Carola, die hat’s vollbracht. Aber das weißt du ja. Und seitdem, seitdem Carola uns das erzählt hat, am Bahndamm, seitdem ist sie weg. Im Internat ist sie, sagen ihre Eltern, die Bonzen. Sagen nicht, wo das Internat ist, das sagen sienicht. Gehört zur Baumschule, in der Carola lernt. Aber mehr sagen sie nicht, die Bonzeneltern. Baumschule, da staunst du, was? Kirschbäume. Logisch, oder?« Er lachte. Ein verzweifeltes, aber auch lüsternes Lachen. »Soll ich dir mal meinen Schwanz zeigen, wie der gleich anschwillt? Wenn ich an Kirschbäume denke und an ihren Hintern? Wenn ich dran denke, wie da ein Kirschbaum rauswächst, raus aus ihrem Hintern? Immer weiter raus, immer weiter …«
    Ich schaute weg. Schaute zu der dunkelbraunen Kommode, aus der er den Himbeergeist geholt hatte. Und Nilowsky sagte, drohend, so wie sein Vater mit mir geredet hatte: »Was guckst du weg? Denkst du, ich will mir einen runterholen vor dir? Denkst du, ich bin schwul, oder was denkst du? Denkst du, ich will Carola heiraten und bin schwul? Was denkst du denn? Was weißt du denn? Weißt du, wo Carola ist, das Internat mit der Baumschule? Wenn du das weißt, sag es mir. Untersteh dich, mir das nicht zu sagen. Hast du das kapiert? Hast du das!?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich, hob meine rechte Hand und legte Zeige- und Mittelfinger aneinander. »Ich schwöre. Ich weiß es nicht.«
    Ich erinnerte mich an den modrig-bitteren, salzigen Geschmack seines Urins auf meiner Zunge. Mir war zum Kotzen zumute. Aber ich unterdrückte diesen Drang. Auf einmal hörte ich ein leises Schnarchen neben mir. Nilowsky schlief, Kopf nach hinten auf der Lehne des Kanapees. Ich stand so leise wie möglich auf und schlich mich aus der Wohnung.

19
    Ich mied die Altstadt mit dem Café Zur gemütlichen Rose ebenso wie das Waldstück mit der rotgelben Baracke und die Gegend auf der anderen Seite des Chemiewerks, in der Carola, wenngleich derzeit abwesend, und nun auch Nilowsky wohnten. Nach der Schule ging ich sofort nach Hause und lernte für den Unterricht der kommenden Tage. Es ließ sich nicht vermeiden, dass ich auch hierbei, im übertragenen Sinne, immer wieder mit Nilowsky zu tun hatte, sei es beim Einstudieren chemischer Formeln oder bei der Betrachtung der historisch gewachsenen Unterschiede zwischen Nordund Süditalien. Trotzdem war das Lernen ein Stück Ablenkung.
    Meine Eltern konnten sich nicht entscheiden, ob sie begeistert sein oder sich eher Sorgen machen sollten. »Schön, dass du offenbar Klassenbester werden willst«, sagte meine Mutter, »aber solchen Ehrgeiz sind wir eigentlich gar nicht von dir gewohnt.«
    »Das könnte ein Entwicklungssprung sein«, meinte hingegen mein Vater. »Die Pubertät kommt in die produktive Phase.«
    Gott, wie gestelzt sie wieder redeten! Ich verdrehte nur die Augen und sagte nichts dazu – was meine Eltern noch mehr verunsicherte.
    Ein paar Tage darauf, an einem Sonntagabend, klingeltees an der Wohnungstür. Wie immer, wenn wir nicht wussten, wer aus welchem Grund bei uns klingelte, war es eine Selbstverständlichkeit, dass mein Vater öffnete. Und kaum hatte er die Tür geöffnet, hörte ich von meinem Zimmer aus Carolas quäkende Stimme: »Schönen guten Abend, ich bin Carola. Ist Markus da?«
    Sekunden später schon stand sie in der Tür zu meinem Zimmer. Sie grinste freudig, und mein Vater sagte, peinlich komplizenhaft: »Besuch für dich. Viel Vergnügen.«
    »Danke«, sagte Carola und schloss die Tür vor seiner Nase. Sofort zog sie ihren Wintermantel aus und setzte sich in ihrem weißen Kleid mit den roten Punkten auf mein Bett. »Einen netten Papa hast du. Richtig nett.«
    »Findest du?«, sagte ich und fand es nicht ganz passend, dass sie, als sei genau das ihr Stammplatz, auf meinem Bett saß. Ich hätte mich auf meinen Schreibtischstuhl setzen können, aber um lässiger zu wirken, lehnte ich mich ans Fenster.
    »Stehst du auch deshalb am Fenster«, fragte sie, »um nach Reiner Ausschau zu halten, wenn

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